Das überraschende letzte Bild: Zillis und der heilige Martin

Kirchendecke Zillis

Die romanische Decke von Zillis erzählt das Leben Jesu – doch die letzte Szene zeigt nicht Kreuz und Auferstehung, sondern die Mantelteilung des heiligen Martin. Eine starke Spur: Die biblische Geschichte geht weiter, wo Menschen teilen, hinsehen und sich Gott anvertrauen. Drei Überschriften zeigen, was Martin uns heute sagt.

Im Sommer war ich mit einer Gruppe – auch mit Leuten aus dem Ahrtal – in der Schweiz unterwegs. In der St.-Martinskirche von Zillis in Graubünden sieht man an der Decke 153 romanische Bilder: das Leben Jesu. Aber: die Leidensgeschichte endet mit der Dornenkrönung. Es gibt kein Kreuz, keine Auferstehung, keine Himmelfahrt, kein Pfingsten. Stattdessen zeigen die letzten sieben Tafeln: die Mantelteilung und Szenen aus dem Leben des heiligen Martin.

Als wolle der Künstler des 12. Jahrhunderts sagen: Den Kreuzestod Jesu kann man nicht einfach anschauen wie einen Film. Mitleiden – das Mitfühlen mit dem Leid der anderen – ist die eigentliche Fortsetzung der Passion.
In der Geschichte des heiligen Martin wird die biblische Geschichte weitergeschrieben. Ich würde dieser Martinsgeschichte drei Überschriften geben:

1. Nicht nur den Mantel – das Leben teilen

Der Schriftsteller Josef Reding legt dem sterbenden Martin den Satz in den Mund: „Nicht nur den Mantel, das Leben teilen. Wenn es nicht wahr ist, dann ist es gut erfunden.

„Teilen verbindet“ – das ist das Motto unserer Aktion hier in der Kirche, während draußen der Martinsmarkt stattfindet. Es spricht eine Erfahrung aus, die wir alle kennen: Es tut gut, wenn jemand etwas mit uns teilt – und es tut gut, selbst zu teilen.
Das muss nicht Geld sein. Es kann Zeit sein, Freude, Begeisterung, Aufmerksamkeit.

Der arme Bettler von damals sitzt auch heute noch am Weg. Vielleicht nicht hier im Ort, aber sichtbar in den Bildern und Nachrichten aus aller Welt. Teilen heißt: andere teilhaben lassen an meinem Leben. Edzard Schaper hat einmal eine Erzählung geschrieben mit dem Titel „Mantel der Barmherzigkeit“. Dieser Mantel besteht nicht aus Euroscheinen, sondern aus Zuwendung – aus dem Willen, einen anderen Menschen wahrzunehmen.

2. Ein Mann der Stille

Die Geschichte des heiligen Martin könnte leicht dazu verführen, das Christsein nur als tätige Nächstenliebe zu verstehen.
Aber Martin war auch ein Mann der Stille und des Gebets. Viele Jahre lebte er als Mönch. Gerade weil er die Stille suchte, ging von ihm Kraft aus. Menschen spürten seine innere Tiefe – so sehr, dass sie ihn zum Bischof von Tours wählten, obwohl er das gar nicht wollte.

Auch hier wird die biblische Geschichte fortgeschrieben: Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammen. Beide müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen Der heilige Martin lädt uns ein – zur Hinwendung zum Menschen und zugleich zur Hinwendung zu Gott.
Er erinnert uns daran: tätige Liebe wächst aus der Stille, und Stille führt zur tätigen Liebe.

3. Das Entscheidende ist nicht das Halbe

Die bekannteste Szene aus dem Leben des hl.Martin ist die mit dem halben Mantel. Vom Pferd herab mag Martin sich groß vorgekommen sein, als er die Hälfte verschenkte. Doch eigentlich war es nur etwas Halbes.
Da erscheint ihm Christus im Traum – bekleidet mit dieser Mantelhälfte. Und Martin erkennt: Nicht die Tat allein zählt, nicht das Stück, das ich gebe, sondern dass Gott mich ganz will.

Gott will nicht nur einen Teil von uns, sondern unser ganzes Leben.
Papst Franziskus hat oft vor Christen gewarnt, die nur an der Oberfläche leben – „die nur an der Oberfläche Christen sind“, sagt er. Sie sind Ausdruck eines „christlichen Mittelmaßes“. Ihr Herz kühlt sich ab und wird lau.

Das Entscheidende ist nicht das Halbe, sondern das Ganze unserer Existenz.
Die Geschichte des heiligen Martin schreibt die biblische Geschichte fort.

Und unsere Lebensgeschichte?
Sie sollte das auch tun – damit am Ende erkennbar wird, welche Überschriften sie trägt.

Das Pferd des Heiligen Martin - Deckengemälde Zillis 12.Jahrhundert

Das Pferd des Hl. Martin in der Decke von Zillis. Miteinander teilen – Teilen tut gut!
Ein konkretes Projekt:
Die Kinder in Bethlehem brauchen uns.
Mehr dazu auf meiner Webseite!

Weinstock und Reben – Was Winzer heute trägt

Das Martinsfest ist für viele im Tal Anlass zum Erntedank.
Mitten in großen Herausforderungen schenkt das Evangelium ein starkes Bild:
Gott vergleicht sich mit einem Winzer.
Ein Wort, das stärkt, tröstet und Mut macht, Frucht zu bringen – gerade jetzt.

Wenn ich an die Bibel denke, fallen mir sofort einige Berufe ein, die immer wieder vorkommen:
die Fischer am See Gennesaret, die Jesus zu Aposteln beruft;
die Zöllner, die verhasst waren, weil sie mit der römischen Besatzungsmacht zusammenarbeiteten;
die Arbeiter auf den Feldern und in den Weinbergen;
und die Hirten, von denen schon in der Weihnachtsgeschichte die Rede ist.

Auch Ihr Beruf, der Beruf des Winzers, spielt im Neuen Testament eine besondere Rolle – eine herausragende sogar.

Foto: Anton Eilmansberger/pfarrbriefservie.de

Im Evangelium lesen wir: Jesus sagt:
„Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.“

Winzer sein heißt nicht zuerst, Wein zu ernten und zu verkaufen, sondern sich um den Weinstock und die Reben zu kümmern.
Der gute Wein wächst nicht von selbst. Er braucht Geduld, Arbeit und Fürsorge. Sie wissen das: Der Winzer muss immer wieder hinaus in den Weinberg – lange bevor geerntet wird.
Vor diesem Hintergrund lesen wir das Wort Jesu noch einmal:
Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.“
Welch eine Aussage: Gott – ein Winzer!
Das ist nur noch vergleichbar mit dem Wort Jesu: „Ich bin der gute Hirt.“
Beides sagt uns: Gott kümmert sich um uns.

Dass Jesus dieses Bild wählt, ist kein Zufall. Der Weinstock gehört zu den ältesten Kulturpflanzen der Menschheit. Seit jeher ist der Wein nicht nur ein Mittel des Genusses, sondern auch Teil des Gottesdienstes.
Der Wein erfreut des Menschen Herz“, heißt es im Psalm 104. Den Menschen ist der Wein gegeben, um Freude zu bringen.

Der heilige Augustinus schrieb im 4. Jahrhundert: „Der Wein erfrischt matte Kräfte, verscheucht Traurigkeit, und vertreibt die Müdigkeit der Seele.“ Seinem Denken steht auch unser Papst nahe, wenn er sagt, dass wahre Freude ein Geschenk Gottes ist – nicht das, was betäubt, sondern das, was belebt.

Der Beruf des Winzers ist durch die Jahrhunderte im Kern gleich geblieben.
Aber in den letzten Jahrzehnten steht er vor großen Herausforderungen:

  • Der Klimawandel ist vielleicht der größte Stressfaktor:
    Hitze, Trockenheit, Spätfrost und Starkregen bedrohen die Erträge.
  • Vieles ist noch immer Handarbeit in Ihrem Beruf,
    aber der technische und digitale Wandel macht auch vor Weinbergen und Kellern nicht Halt.
  • Der Weinkonsum verändert sich spürbar.
    Wein ist heute mehr als ein Produkt – er ist Teil von Kultur, Tourismus und Erlebnis.
  • Zugleich greifen immer mehr Menschen, besonders Jüngere, zu alkoholfreien Produkten.
    Manche sehen alkoholfreien Wein skeptisch – „Das ist kein richtiger Wein“, sagen sie.
    Andere verstehen ihn als zeitgemäße Ergänzung, die neue Zielgruppen erreicht, ohne die Tradition zu verraten.

Das alles sind große Herausforderungen, die sich natürlich auch wirtschaftlich bemerkbar machen.
Ich kann gut verstehen, dass einem manchmal die Freude am Beruf vergeht und man sich fragt, wie es weitergehen kann und ob man nicht aussteigen soll.
Aber in schwierigen Zeiten gab es immer auch die andere Möglichkeit:
nämlich die Herausforderungen anzunehmen und sie gemeinsam zu bestehen.
Genau das stand auch hinter der Gründung des Winzervereins 1873 und des Weinbauvereins 1881.
Schon damals wussten Ihre Vorfahren: Gemeinschaft ist die beste Antwort auf Not.

Am Anfang unserer Überlegungen stand das Wort Jesu:
Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.“
Und Jesus sagt weiter:
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht.“

Das ist der Sinn unseres Lebens: Frucht zu bringen.
Nicht, dass wir Erfolg haben oder Karriere machen, nicht dass wir reich werden.
Frucht dient immer dem Leben – indem sie neues Leben hervorbringt oder das Leben nährt, das schon da ist.

Es geht um das Leben:
um Ihr Leben, um das Ihrer Familien,
um das Leben dieses Ortes, dieses Tales, dieser Gemeinschaft.
Sie haben einen der ältesten Berufe der Menschheit –
mehr noch: Sie glauben an einen Gott, der sein Wirken mit der Arbeit eines Winzers vergleicht.

Ich wünsche Ihnen,
dass Ihnen dieses Bild Hoffnung schenkt
und Sie beflügelt, Frucht zu bringen –
in Ihrer Arbeit, in Ihren Familien,
in unserer Gemeinschaft hier im Tal.

Ein guter Jahrgang

Gedanken zu Allerseelen an der Ahr

Der Tod bleibt nicht das Ende – er ist die Ernte des Lebens.
Wie ein Winzer seine Trauben prüft, so schaut Gott auf das, was in uns gereift ist.
Jeder Mensch trägt Sonne und Regen in sich – und jeder Jahrgang ist anders.
Ein Gedanke zu Allerseelen, mitten aus dem Leben der Winzer.

Der Tod führt in unserer Welt ein Einsiedlerdasein.
Wir haben ihn abgeschoben, verdrängt. Gestorben wird im Fernsehen.
Doch wenn er plötzlich in unser Leben tritt –
wenn jemand stirbt, den wir geliebt, gekannt, geschätzt haben –,
werden wir unsicher. Verlegen. Ängstlich.
Der Tod des Anderen bringt die Wahrheit über uns ans Licht:
Der Tod ist der Ernstfall des Lebens.
Reden wir also nicht nur von den Toten, reden wir auch von uns.

Im Evangelium lesen wir die Wort Jesu: Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater ist der Winzer.

Winzer sein, d.h. nicht zuerst Wein ernten und verkaufen, sondern sich um den Weinstock und die Rebe kümmern. Der gute Wein wächst nicht von selbst. Er braucht Geduld, Arbeit und Fürsorge. Sie wissen das: als Winzer muss man oft in den Weinberg gehen, um an Ende die Traube zu ernten.
Vor diesem Hintergrund: welch eine Aussage: Gott ein Winzer! Gott kümmert sich um uns!

Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben, sagt Jesus

Die Touristen auf dem Rotweinwanderweg sehen die schönen Reben, prall und leuchtend. Doch wer genau hinschaut, sieht mehr: die Sonne, den Regen, die Schädlinge – die ganze Geschichte eines Jahres.

Für unsere Toten ist mit ihrem Tod die Zeit der Ernte gekommen.
Der Winzer betrachtet die Ernte und fällt sein Urteil über den Ertrag, den sie bringt.
Unsere Toten sind nun in die Hand Gottes gelegt worden, der weiß, was ihr Leben ausgemacht hat.

Für den Winzer gibt es besondere Gelegenheiten, seinen Wein vorzustellen. Man spricht von der „Weinprobe“. Probieren geht über Studieren, sagen die Leute. Und lassen sich auf der Zunge zergehen, was ihnen an Köstlichkeiten gereicht wird. Schlucke, ja Schlückchen genügen, um über den Wein ins Schwärmen zu geraten. Geradezu blumig wird über ihn geredet. Seine besten Weine bewahrt der Winzer in seiner Schatzkammer auf.
Aber die Kenner verstehen – auch ohne Formeln, ohne Befunde. Wein ist etwas Schönes, ist ein Geschenk! Ein Wunder! Ein Gedicht! Vielleicht ein Gebet.

Was aber ist, wenn statt der Weinprobe die Lebensprobe angesagt wird?
Da vergeht vieles nicht mehr auf der Zunge, sondern bleibt im Halse stecken.
Geschwärmt wird auch nicht immer. Dafür ist vieles zu sauer, zu fade, hat manches einen schlechten Beigeschmack.
So mancher Mensch bleibt ganz allein mit der Probe seines Lebens.

Der Tod stellt auch uns auf die Probe. Er erinnert uns daran, dass unser eigenes Leben zur Prüfung reift. Wird man von mir sagen, dass ich ein „guter Jahrgang“ bin?

Bitten wir deshalb in dieser Stunde, dass es uns gelingt, dem Bild des Evangeliums zu entsprechen:
Ich möchte wie die Rebe am Weinstock sein. Wachsen. Die Erde und die Sonne aufnehmen. Für Menschen eine Freude werden. Ihr Leben schön und reich machen. Zu einem Fest einladen.
Jesus, der sich als Weinstock vorstellt, hat besonders die Mühseligen und Beladenen zu sich gerufen. Mit ihnen hat er gefeiert. Vor den Augen der Menschen, die sie längst abgeschrieben haben.
Wein ist ein Bild für das Leben.

Von vielen Toten, die wir beweinen, können wir gewiss sagen, dass sie ein guter Jahrgang waren. Beten wir für sie an diesem Tag und seien wir dankbar. Vor allem: Geben wir ihnen einen festen Platz in der Schatzkammer unseres Herzens – dort, wo die guten Erinnerungen aufbewahrt werden.

Heilige mitten im Alltag

Collage Laurentius - Grablichter

An Allerheiligen schauen wir nicht nur auf Menschen mit Heiligenschein,
sondern auf Männer und Frauen, die mitten im Leben standen.
Heilige, die Computer und Putzeimer in den Händen halten –
und deren Namen längst eingeschrieben sind in Gottes Herz.

Alle Jahre wieder werden die Menschen in unserem Land nach ihren Idolen gefragt. Nach denen, zu denen man aufschaut. Dann liest man die Namen: Sportler, Politiker, Musiker – früher auch einmal Kirchenleute.

Doch der Glanz dieser Vorbilder verblasst schnell. Und wir merken: In diese oberste Liga schaffen es nur wenige. Wer von uns wird schon Olympiasieger, Spitzenpolitiker oder Schlagerstar? Da merken wir schnell:  Es muss gar nicht unser Ziel sein, ihnen gleichzutun.
Ein Heiliger allerdings –  das kann jeder werden!

Heilige sind keine Sonderlinge. Sie waren Menschen wie wir. Jeder von ihnen hat seinen Weg unter den Bedingungen seiner Zeit gelebt. Und sie zeigen uns: Das Evangelium ist wirklich lebbar.

Natürlich kennen wir viele Legenden, die sie übermenschlich erscheinen lassen. Aber ihre wahre Größe lag in den kleinen Dingen. Da wo sie sich nicht anpassten, nicht Schritt hielten mit der Welt, sondern ausstiegen und in die Fußstapfen Jesu traten.
In der Geduld. 
In der Barmherzigkeit. 
In der Treue. 
In der Liebe.

Sie lebten, was Jesus in der Bergpredigt beschrieben hat:
den Kleinen,
den Sanftmütigen,
den Barmherzigen,
denen, die Gerechtigkeit suchen,
denen, die Frieden stiften,
denen gehört das Himmelreich.

Ein Bischof hat einmal gesagt: 
Die Heiligen von heute 
tragen keinen Rost wie Laurentius,
keinen Turm wie Barbara, 
kein Kreuz wie Helena.

Die Heiligen von heute 
tragen einen Computer in den Händen, 
eine Bohrmaschine 
oder einen Putzeimer.

Sie sind heilig in den Büros, 
heilig bei der Arbeit, 
heilig im Haushalt.

Denn bei ihnen klaffen das Wort der Schrift und Leben nicht auseinander. Sie gehören zusammen.
Darum, so schreibt Hilde Domin, sollen die Heiligen auf ihren Sockeln bleiben. 
Sie bleiben der Kinder wegen,“ schreibt sie, „damit es eine Tür gibt, eine schwere Tür für Kinderhände, hinter der das Wunder angefasst werden kann.“
Die Männer und Frauen auf unseren Altären, die wir an diesem Tag verehren, öffnen uns die Tür zu unserer Zukunft. Denn wir glauben, dass ihr Leben nicht im Nichts versunken ist, sondern alles, was ihr Leben ausgemacht, mehr noch: sie selbst sind aufgehoben bei Gott.

Indem wir sie hochschätzen, feiern wir auch unsere eigene Zukunft: 
jenes Leben, das uns erwartet, wenn wir – wie sie – mit der Nachfolge Jesu ernst machen.
Wenn wir heute zum Friedhof gehen, 
stehen wir an den Gräbern vieler solcher Heiligen. 

Menschen, die mit uns gelebt haben. 
Von denen wir sagen: 
Ihr Leben war wertvoll und gut. 
Ihr Leben ist ihnen gelungen.
Sie werden nie in einem Heiligsprechungsprozess genannt werden, 
aber sie sind für uns Vorbild, Leitfigur, Orientierung.

Und vielleicht sind sie gerade die stillen Heiligen, die Gott besonders liebt.
Ihre Namen stehen nicht auf einer Bestenliste, 
aber sie sind eingeschrieben in Gottes Herz.

Foto: privat / Pfarrbriefservice/pixabay.

Ich – wer im Tempel recht hat

Zwei Männer beten im Tempel – der eine stolz auf sich, der andere ehrlich vor Gott.
Das Evangelium vom Pharisäer und Zöllner stellt uns eine unbequeme Frage:
Wer hat eigentlich recht – und wer erkennt, dass er sich irrt?

Bevor ich das Evangelium verkünde, möchte ich gerne etwas klären.
Der Evangelist Lukas schreibt, dass sich Jesus an diejenigen wendet,
die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt waren und die anderen verachten“.

Fühlen Sie sich davon angesprochen?
Gehören Sie zu denen, die andere verachten?
Soll ich vielleicht einen anderen Evangeliumstext suchen?
Oder wollen wir doch einmal hören, was der Herr zu sagen hat –
auch wenn es uns gar nicht betrifft?
Sind Sie neugierig genug, es trotzdem zu wagen?

Lk 18,9–14

Die Geschichte vom Pharisäer und vom Zöllner ist uns vertraut.
Und ebenso klar scheint uns, auf wessen Seite wir stehen. Sind Sie sich da sicher?

Der eine, der Pharisäer, ist fromm – sehr fromm.
Er lebt korrekt, hält alle Gebote, fastet, gibt Almosen.
„Sieh her, lieber Gott, wie vollkommen ich bin!“
Er dankt Gott für all das, was er nicht ist.
Er ist nicht wie die anderen Menschen,
vor allem nicht wie dieser Zöllner dort hinten.
So korrekt wie er ist, braucht er keine Barmherzigkeit.
Er genügt sich selbst.
Ob er Gott überhaupt braucht ?
allenfalls als Folie, um sich selbst ins rechte Licht zu setzen.

Der andere gehört eigentlich gar nicht hierher, in den Tempel.
Er ist ein Zöllner – ein Ausbeuter des Volkes,
ein Mitarbeiter der römischen Besatzungsmacht.
Er ist gesellschaftlich geächtet.
Aber er weiß um seine Schuld, er kennt seine Verfehlungen, und er steht nun vor Gott mit leeren Händen.
Er erkennt sein Elend, will umkehren
und erwartet alle Hilfe von dem barmherzigen Gott.
Und Gott gewährt sie ihm.
Der Zöllner erfährt, was es heißt,
auf Gottes Barmherzigkeit zu hoffen – und sie zu finden.

Wie so oft im Evangelium ahnen wir: In beiden Figuren steckt etwas von uns.
Wir denken nicht selten wie der Pharisäer und beten – hoffentlich – wie der Zöllner.
Wie finden wir da heraus?
Eine kleine Geschichte – nicht aus der Bibel, aber aus der Feder eines berühmten Schriftstellers – kann uns vielleicht helfen.Ein englischer Schriftsteller bekommt eines Tages einen Brief einer Tageszeitung.
Sehr geehrter Herr“, heißt es, „wir machen eine Umfrage unter Schriftstellern. Bitte beteiligen Sie sich und antworten Sie in ein paar Zeilen auf die Frage: Was ist faul an dieser Welt?“
Der Schriftsteller legt den Brief zur Seite.
Nach einer halben Stunde setzt er sich an seinen Schreibtisch, nimmt ein Blatt Papier und schreibt seine Antwort.
Nicht viele Zeilen, nicht einmal einen Satz –
nur ein einziges Wort: Ich.

Was für eine mutige Antwort.
Kein Herumgerede, keine Weltanalysen, keine Schuldzuweisungen.
Er berührt den wundesten Punkt, den es gibt: Ich.

Zuerst muss ich auf mich schauen.
Zuerst gebe ich keinem anderen die Schuld,
beschuldige nicht Umstände oder Sachzwänge.
Wenn etwas faul ist, suche ich die Gründe nicht bei den anderen,
sondern zuerst bei mir.

Das führt uns auf den richtigen Weg:
auf mich schauen.
Mich selbst befragen, bevor ich andere richte.
Könnte ich verantwortlich sein?
Liegt der Fehler bei mir?
Lebe ich, wie Gott es will –
oder so, wie es mir am besten passt?
Trage ich dazu bei,
dass in meiner kleinen oder in der großen Welt etwas faul ist?

Ein erster Schritt wäre gewiss,
wenn wir wie jener Schriftsteller einsehen würden:
„Ich trage mit dazu bei.“
Und wenn wir dann ehrlich beten würden:
„Gott, sei mir Sünder gnädig.“
Wie der eine von den beiden im Tempel.


Beten verändert

Wenn der Himmel stumm bleibt – und ich doch bete.

Manchmal bleibt der Himmel stumm. Und doch – wer betet, bleibt nicht derselbe.
Eine Predigt über die beharrliche Witwe, das Ringen um Gottes Antwort und die Kraft, die im Gebet selbst liegt.

congerdesign/Pixabay

Die Tragödie des modernen Menschen liegt darin, dass er den Weltraum erobert hat – aber das Gebet vergessen.“
So formulierte es Elie Wiesel, Überlebender des Holocaust und Friedensnobelpreisträger von 1986.

Die beharrliche Witwe aus dem Evangelium lädt uns ein, über das Beten nachzudenken.

In der Geschichte, die Jesus erzählt, hat diese Frau eigentlich keine Chance gegen den gottlosen Richter.
Witwen gehörten in der damaligen Gesellschaft zu den Schutzlosesten – ohne Mann, ohne Stimme, ohne Macht.
Ein Richter dagegen hatte Einfluss und Ansehen; er konnte über Leben und Tod entscheiden.
Richter gegen Witwe. Ein ungleicher Kampf also: Macht gegen Ohnmacht.
Aber die Witwe gibt nicht auf. Ihre Stärke liegt in ihrer Hartnäckigkeit – und am Ende bekommt sie ihr Recht.

Diese Entschiedenheit gilt auch für unser Gebet.
Jesus verspricht uns, dass Gott uns zu unserem Recht verhelfen wird, wenn wir „Tag und Nacht zu ihm schreien“.

Vielleicht denken Sie jetzt:
„Ich habe andere Erfahrungen gemacht. Ich habe den Himmel bestürmt, Kerzen entzündet, gefleht, geklagt, geschrien – und doch blieb der Himmel stumm.“

Sie haben recht.
Die Erfahrung der Vergeblichkeit gehört zu unserer Gebetsgeschichte – ja, sie gehört zur Gebetsgeschichte der Menschheit überhaupt.
Schon vor 3000 Jahren klagte der Psalmist:
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, doch meine Hilfe ist ferne.“
(Psalm 22)

Und auf das quälende „Warum?“ gibt es auch keine Antwort.

Aber ebenso kennen wir die andere Erfahrung, die ein Beter im Alten Testament so beschreibt:
„Ich suchte den Herrn, und er hat mich erhört;
er hat mich all meinen Ängsten entrissen.“
(Psalm 34)

Beten ist in der Bibel etwas ganz Selbstverständliches.
Es gab ursprünglich gar kein eigenes Wort dafür – denn Beten war Rufen, Frohlocken, Lachen, Weinen, Schimpfen, Flehen.
Im Gebet begegnen wir den Menschen, oft verbissen und heftig, verzweifelt und zweifelnd – ganz menschlich.
Das kennen wir auch aus unserem Leben, aus unserer Gebetsgeschichte.
Aber wir erleben auch, dass es oft so viel zu tun gibt, dass das Gebet ins Hintertreffen gerät. Vieles andere scheint wichtiger.

Das kenne ich auch – und dann ist es mir ein Trost, zu wissen, dass es Menschen gibt, die an meiner Stelle beten: nicht nur in den Klöstern, auch hier bei uns, mitten im Ort.
Es berührt mich immer, wenn ich dienstagsabends zur Messe komme und einige Frauen in der Kirche den Rosenkranz beten. Sie tun es stellvertretend – für uns alle – nicht nur dienstags.

In Assisi gibt es ein Altarbild des heiligen Franziskus:
Die rechte Hand zum Himmel erhoben, die linke weist auf die Erde.
Darum geht es: Wir dürfen von Gott vieles erwarten und erbitten – Selbstvertrauen, Mut, Geduld, Phantasie, alles, was nötig ist, um aus einer Notsituation gestärkt hervorzugehen.
Aber wir dürfen nicht erwarten, dass er uns die Arbeit abnimmt.

Bete, als hinge alles von Gott ab,
und handle, als hinge alles von dir ab
.“
In dieser Spannung steht jedes echte Gebet.

Wenn also im Alltag wieder vieles drängt und das Gebet Gefahr läuft, vergessen zu werden,
dann ist es gut, Gott bewusst mit ins Lebensboot zu holen.

Wer das tut, wird erfahren: Das Gebet verändert den Beter.
Die Mystikerin Mechthild von Magdeburg, eine fromme Frau des 13. Jahrhunderts, hat es so gesagt:

„Das Gebet hat große Macht,
das ein Mensch verrichtet mit seiner ganzen Kraft.
Es macht ein bitteres Herz süß,
ein trauriges Herz froh,
ein armes Herz reich,
ein törichtes Herz weise,
ein zaghaftes Herz kühn,
ein schwaches Herz stark,
ein blindes Herz sehend,
eine kalte Seele brennend.
Es zieht den großen Gott in ein kleines Herz,
es treibt die hungrige Seele hinauf zu dem Gott der Fülle.“

Ich wünsche Ihnen,
dass Sie wenigstens eine dieser Erfahrungen schon einmal gemacht haben –
und dass Sie sie nie vergessen.


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