
Die romanische Decke von Zillis erzählt das Leben Jesu – doch die letzte Szene zeigt nicht Kreuz und Auferstehung, sondern die Mantelteilung des heiligen Martin. Eine starke Spur: Die biblische Geschichte geht weiter, wo Menschen teilen, hinsehen und sich Gott anvertrauen. Drei Überschriften zeigen, was Martin uns heute sagt.
Im Sommer war ich mit einer Gruppe – auch mit Leuten aus dem Ahrtal – in der Schweiz unterwegs. In der St.-Martinskirche von Zillis in Graubünden sieht man an der Decke 153 romanische Bilder: das Leben Jesu. Aber: die Leidensgeschichte endet mit der Dornenkrönung. Es gibt kein Kreuz, keine Auferstehung, keine Himmelfahrt, kein Pfingsten. Stattdessen zeigen die letzten sieben Tafeln: die Mantelteilung und Szenen aus dem Leben des heiligen Martin.
Als wolle der Künstler des 12. Jahrhunderts sagen: Den Kreuzestod Jesu kann man nicht einfach anschauen wie einen Film. Mitleiden – das Mitfühlen mit dem Leid der anderen – ist die eigentliche Fortsetzung der Passion.
In der Geschichte des heiligen Martin wird die biblische Geschichte weitergeschrieben. Ich würde dieser Martinsgeschichte drei Überschriften geben:
1. Nicht nur den Mantel – das Leben teilen
Der Schriftsteller Josef Reding legt dem sterbenden Martin den Satz in den Mund: „Nicht nur den Mantel, das Leben teilen. Wenn es nicht wahr ist, dann ist es gut erfunden.
„Teilen verbindet“ – das ist das Motto unserer Aktion hier in der Kirche, während draußen der Martinsmarkt stattfindet. Es spricht eine Erfahrung aus, die wir alle kennen: Es tut gut, wenn jemand etwas mit uns teilt – und es tut gut, selbst zu teilen.
Das muss nicht Geld sein. Es kann Zeit sein, Freude, Begeisterung, Aufmerksamkeit.
Der arme Bettler von damals sitzt auch heute noch am Weg. Vielleicht nicht hier im Ort, aber sichtbar in den Bildern und Nachrichten aus aller Welt. Teilen heißt: andere teilhaben lassen an meinem Leben. Edzard Schaper hat einmal eine Erzählung geschrieben mit dem Titel „Mantel der Barmherzigkeit“. Dieser Mantel besteht nicht aus Euroscheinen, sondern aus Zuwendung – aus dem Willen, einen anderen Menschen wahrzunehmen.
2. Ein Mann der Stille
Die Geschichte des heiligen Martin könnte leicht dazu verführen, das Christsein nur als tätige Nächstenliebe zu verstehen.
Aber Martin war auch ein Mann der Stille und des Gebets. Viele Jahre lebte er als Mönch. Gerade weil er die Stille suchte, ging von ihm Kraft aus. Menschen spürten seine innere Tiefe – so sehr, dass sie ihn zum Bischof von Tours wählten, obwohl er das gar nicht wollte.
Auch hier wird die biblische Geschichte fortgeschrieben: Gottesliebe und Nächstenliebe gehören zusammen. Beide müssen im richtigen Verhältnis zueinander stehen Der heilige Martin lädt uns ein – zur Hinwendung zum Menschen und zugleich zur Hinwendung zu Gott.
Er erinnert uns daran: tätige Liebe wächst aus der Stille, und Stille führt zur tätigen Liebe.
3. Das Entscheidende ist nicht das Halbe
Die bekannteste Szene aus dem Leben des hl.Martin ist die mit dem halben Mantel. Vom Pferd herab mag Martin sich groß vorgekommen sein, als er die Hälfte verschenkte. Doch eigentlich war es nur etwas Halbes.
Da erscheint ihm Christus im Traum – bekleidet mit dieser Mantelhälfte. Und Martin erkennt: Nicht die Tat allein zählt, nicht das Stück, das ich gebe, sondern dass Gott mich ganz will.
Gott will nicht nur einen Teil von uns, sondern unser ganzes Leben.
Papst Franziskus hat oft vor Christen gewarnt, die nur an der Oberfläche leben – „die nur an der Oberfläche Christen sind“, sagt er. Sie sind Ausdruck eines „christlichen Mittelmaßes“. Ihr Herz kühlt sich ab und wird lau.
Das Entscheidende ist nicht das Halbe, sondern das Ganze unserer Existenz.
Die Geschichte des heiligen Martin schreibt die biblische Geschichte fort.
Und unsere Lebensgeschichte?
Sie sollte das auch tun – damit am Ende erkennbar wird, welche Überschriften sie trägt.

Das Pferd des Hl. Martin in der Decke von Zillis. Miteinander teilen – Teilen tut gut!
Ein konkretes Projekt:
Die Kinder in Bethlehem brauchen uns.
Mehr dazu auf meiner Webseite!





