Der Engel mit dem gebrochenen Flügel

Ich widme die Geschichte allen Engeln, die aus dem Himmel gefallen und irgendwo gelandet sind – oder eben auf dem Dach des Stalls von Bethlehem wie dieser kleine Engel.

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Das Malheur war passiert, als die Engel aufgescheucht von der wunderbaren Botschaft „Heute ist in der Stadt Davids der Heiland geboren“ den Himmel verlassen hatten, um das Gloria über Bethlehems Feldern zu singen: der Flügel eines kleinen Engels war gebrochen und ohne Flügel können Engel nun mal nicht fliegen. Er purzelte zur Erde und landete vom Wind etwas abgetrieben auf dem mit Stroh gedeckten Stall, in dem das Jesuskind lag.

Der kleine Engel schrie leicht auf, weil das Stroh ihn piekste und stach. Er schaute nach – alles heil geblieben, außer dem gebrochenen Flügel. Als wenn das nicht schon genug wäre. Er blickte zum Himmel, wo ein goldener Glanz alles überstrahlte. Die anderen Engel sangen um die Wette und keiner hatte den kleinen Engel bemerkt, der zur Erde gefallen war. Gleich, so dachte er bei sich, werden sie nach Dir schauen, irgendeiner wird dich vermissen und mit der Suche beginnen. Und Engel haben bisher noch alles gefunden.

Das Gloria war vorbei und die „Kollegen“ kehrten in den Himmel zurück. Auf den Feldern blieben die staunenden Hirten zurück. Der kleine Engel zitterte in der Nacht und sehnte sich nach seiner Wolke, wo er jetzt warm beschienen von der Sonne sitzen könnte. Er hörte Schritte näher kommen, aufgeregte Stimmen, die leiser wurden, je näher sie kamen. Sie traten ein in den Stall, aus dem auch ein heller, warmer Glanz nach draußen fiel.

Langsam rutschte der kleine Engel bis an den Rand des Strohdaches. Jetzt konnte er durch eines der verstaubten Fenster ins Innere blicken. Da lag das Kind, von dem der Ober-Engel erzählt hatte, in Windeln gewickelt und in einer Krippe. Daneben seine Mutter und sein Vater – der kleine Engel wusste nichts von theologischen Feinheiten. Ihm war nur klar, wenn er nicht erfrieren wollte, dann musste er in den Stall hinein.

Er zielte und sprang auf eines der Schafe, das mit den Hirten gekommen war. Es blökte einmal laut auf, als es den Engel auf seinem Rücken bemerkte, der schnell weiter auf die Erde sprang. Ganz unsportlich sind auch Engel nicht.

Kurz vor dem Eingang zum Stall erschrak er und drückte sich schnell in den Schatten der Stallwand. Was würde der Gottessohn sagen, wenn er einen Engel mit gebrochenem Flügel entdeckte? Es reichte schon, sich vorzustellen, was im Himmel los sein würde, wenn der Ober-Engel mitbekommen würde, was ihm passiert ist. Im Himmel herrscht Ordnung, pflegte er immer zu sagen und ein zerbrochner Flügel war nun mal nicht in Ordnung.

Andererseits in dem Durcheinander, das jetzt herrschte, könnte er leicht ins den Stall hineinkommen. Irgendwie zwischen den Beinen hindurch in irgendeine Ecke bis einer der anderen Engel ihn gefunden hat. Es konnte nicht mehr lange dauern. Gedacht, getan. Er kroch hinein in die hinterste Ecke des kleinen Stalls, wo ein Haufen Stroh ihn vor den Blicken verbarg. Dort setzte er sich in die Dunkelheit und schlief ein. Niemand hatte ihn bemerkt.

Das Weinen des Kleinen hatte ihn aufgeweckt. Wie viel Zeit musste vergangen sein? Keiner hatte nach ihm gesucht, keiner hatte ihn gefunden. Fällt es im Himmel schon nicht mehr auf, wenn ein Engel fehlt? Ihm war zum Weinen zumute und bald schon weinte er vor sich hin, so leise, dass ihn niemand von den Menschen hören konnte, aber so laut, dass der Ochs neugierig wurde und mit seinem Maul bedrohlich nahe kam.

Der kleine Engel wich ängstlich zurück und verkroch sich noch tiefer in das Stroh. Hier war es dunkel und auch warm. Hier sah niemand seinen zerbrochnen Flügel. Im Übrigen war er sehr geschickt darin, ihn so zu halten, dass niemand ihn sah. Wie hätte er auch sein Malheur erklären können? Da saß er also im Stall von Bethlehem und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte.

Im Stall herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Neben emsiger Geschäftigkeit, gab es auch sehr stille Momente. Eine himmlische Stille, dachte der kleine Engel und erinnerte sich an sein Zuhause. Es war zwar auch für Engel im Himmel nicht immer einfach, besonders dann, wenn der Ober-Engel mal wieder stundenlanges Jubilieren und Hosianna-Rufen verordnet hatte. Aber es war doch der Himmel – bei aller Anstrengung!

Jetzt war er herausgepurzelt. Es kann doch nicht sein, dass mich niemand vermisst und keiner nach mir schaut. Engel kennen zwar keine Zeit, aber hier unten auf der Erde kam es ihm doch inzwischen etwas lange vor. Manchmal lugte er durch das Stroh und eine kleine Ecke des Fensters hindurch zum Himmel. Wenn er dann nachts die Sterne funkeln sah, wusste er, dass seine Kollegen fleißig gewesen waren. Was mag nur mit seinen Sternen sein, für die er zuständig war? Gewiss es waren nicht die berühmtesten Himmelskörper. Sie zählten nicht zu den Sternbildern, die selbst die Amateur-Astronomen am Himmel ausmachen konnten, aber es ging trotzdem nicht an, dass sie nicht geputzt wurden. Der kleine Engel hing seinen Gedanken nach und hatte zuerst gar nicht bemerkt, wie Bewegung in den Stall kam.

Draußen war irgendetwas los. Ach wenn er doch auf die Fensterbank hätte fliegen können. Er war doch so neugierig. Also musste er seine Ohren spitzen. Das klang nach einer größeren Gesellschaft. „Hier muss es sein!“, hörte er eine Stimme in einer fremden Sprache. Engel verstehen alle Sprachen. „Hier kann es aber nicht sein!“, sagte eine andere Stimme und fügte hinzu, „ wir suchen einen König und stehen vor einem Stall.“ „Aber der Stern!, flüsterte ein Dritter. Als der kleine Engel das Wort „Stern“ hörte, wurde er ganz nervös. Ein Stern soll scheinen, am helllichten Tag! Ja, richtig, da stand ein Stern am Himmel und leuchtete mit der Sonne um die Wette. Ein Strahl fiel mitten hinein in den Stall auf das Kind in der Krippe. „Schön“, dachte der kleine Engel, „ einfach schön!“

Draußen tuschelte man bis einer hörbar sagte: „Ich gehe jetzt rein und schaue nach!“ Und schon ging knarrend die Stalltür auf und im Türrahmen stand ein großer Mann in prächtigen Gewändern. Als er das Kind und seine Mutter sah, trat er einen Schritt nach vorne und fiel auf die Knie. Hinter ihm kamen noch zwei nicht weniger kostbar gekleidete Männer, die sich ebenfalls niederknieten. So ist’s recht, dachte der kleine Engel, immerhin ist es Gottes Sohn, und er wunderte sich trotzdem. Die Männer waren anscheinend nicht aus Bethlehem, sondern kamen von weither.

Und sie hatten seltsame Namen: Caspar, Melchior und Balthasar. Der kleine Engel musste kichern als er die Namen hörte. Engel mit solchen Namen gab es im Himmel nicht. Da fiel ihm auf, dass er gar keinen Namen hatte. „Kleiner Engel“ wurde er immer gerufen – aber das war doch kein Name! Kleine Engel gibt es gewiss viele.

Ohne Namen – das bedeutet doch austauschbar zu sein. Vielleicht hatten sie ihn deshalb im Himmel vergessen. Wer keinen Namen hat, der hat auch keinen Platz im Herzen der anderen. Der kleine Engel wurde sehr nachdenklich und traurig – „also deshalb“, jetzt wusste er Bescheid. Aber was änderte das an seiner Situation? Engel „Namenlos“ mit einem gebrochenen Flügel, irgendwo in einer Ecke des Stalls von Bethlehem.

Aber er hatte nicht viel Zeit, um nachdenklich zu sein. Jetzt brachten die drei Männer Geschenke herbei und der kleine Engel kroch ein wenig hinter seinem Stroh hervor, um es genauer sehen zu können. Der erste brachte Gold, glänzendes Gold, so strahlend, dass selbst der Engel staunen musste. Er wusste, wie kostbar das Gold war, das hatte man ihm beigebracht schon in seinen ersten Stunden im Himmel, wo die Strassen aus reinem Gold sind. „Das ist recht“, dachte er, „soll der Gottessohn doch etwas vom Himmel hier unten haben, wenn er schon in beschissenen Windeln in einer Krippe liegen muss. Was ein Gottessohn so alles macht?“ Es gibt Dinge, die kleine Engel nicht verstehen.

Der zweite kam mit Weihrauch. Wie das duftete, der ganze Stall war davon erfüllt. Er wusste, dass auch dieses Geschenk sehr wertvoll war. Es kam von weither, aus Saba, wenn er sich recht erinnerte, und wie oft hatte er oben im Himmel die Luft ganz tief eingesogen, wenn der Weihrauch von der Erde bis zum Himmel emporstieg. Hmm, es war fast wie zuhause im Himmel und die Sorgen des kleinen Engels verzogen sich ein wenig.

Und was brachte der Dritte, der Älteste der Drei? Myrrhe legte er zu Füssen des Kindes nieder und machte dabei ein ernstes Gesicht. Auch ein kostbares Harz, aber – und das wusste sogar der kleine Engel – es wurde gerne verwandt als Heilmittel und zur Einbalsamierung von Verstorbenen. Na, ob das denn der richtige Ort für so ein Geschenk ist. Fast hätte er aus Protest laut aufgeschrien. So etwas schenkt man doch keinem Neugeborenen. Aber er hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund. Man hätte ihn gewiss entdeckt.

So kroch er leise wieder zurück in seine Ecke und versuchte alles zu begreifen, was er da erlebt hatte. Versunken in sich selbst und immer wieder „Gold, Weihrauch, Myrrhe“ murmelnd hätte er fast nicht mitbekommen, dass das Kind auf dem Schoß der Mutter nach den Kronen der drei Männer griff. Hatte er es richtig gesehen, dass es mit seinen kleinen Fingerchen ungelenk ein Kreuz in die Kronen gemalt hatte? Er rieb sich die Augen und tatsächlich, es zeichnete ein Kreuz in die Kronen und gab sie lächelnd zurück. Das soll einer begreifen. Wie gerne hätte er mit seinem Ober-Engel darüber gesprochen.

Die drei Männer nahmen Abschied und Maria und Josef schauten ihnen lange nach. Es dauerte ein wenig bis der Zug mit seinen Kamelen und Dromedaren den Weg über die Hügel von Judäa genommen hatte. Der kleine Engel war an diesem Abend so aufgeregt, dass er nicht schlafen konnte. Maria, Josef und das Kind dagegen ruhten aus von einem anstrengenden Tag.

Plötzlich ein Rauschen und ein großes Licht, das in den Stall schien. Und da stand er: sein Ober-Engel. Endlich: dem kleinen Engel liefen die Tränen über’s Gesicht. Endlich: sie hatten ihn also doch nicht vergessen und gefunden. Er konnte gar nicht schnell genug aus dem Stroh hervor kriechen und seine Flügel vom Stroh säubern, denn der Oberengel war sehr pendantisch. Aber was war das? Er kam nicht zu ihm, sondern rührte Josef an, flüsterte ihm etwas ins Ohr, verließ ihn und den Stall. „Hallo, hier bin ich!“ schrie der kleine Engel. „Hallo, hier!“ Aber das Licht erlosch und es wurde wieder still. „Das gibt es doch nicht! Du kannst mich doch hier nicht zurücklassen.“

„Wer bist du denn?“, hörte er ein kleines Stimmchen. Oh je, jetzt hatte sein Schreien das Kind aufgeweckt. Es schaute zu ihm hin, verstecken war nicht mehr möglich. „Komm bitte her“, sagte das Jesuskind. Der kleine Engel kroch langsam näher, peinlich darauf bedacht, seinen zerbrochenen Flügel zu verstecken. Er hockte sich neben die Krippe, schaute das Kind an und dann brach es aus ihm hervor, er erzählte seine ganze Geschichte. Wie er aus dem Himmel gefallen war, mitten auf das Dach des Stalles, wie er sich in einer Ecke versteckt und staunend alles miterlebt hatte. Auch von seinem gebrochenen Flügel erzählte er. „Gebrochner Flügel?“, fragte das Kind, „lass sehen“. Auch das noch! Er hätte sich ohrfeigen, dass er es überhaupt erzählt hatte. Er zeigte dem Kind das zerbrochene Gefieder. Doch was war das? Plötzlich kam neue Kraft in seine Flügel, er konnte beide wieder bewegen. Wenn das kein Wunder ist! Das Kind in der Krippe lächelte nur.

„Wie heißt du?“ fragte es. Auch das noch – schlimmer konnte es nicht mehr werden. Jetzt auch die Sache mit dem Namen. „Kleiner Engel“, sagte er und am liebsten hätte er noch hinzugefügt „Engel Namenlos“, aber er hätte es nur noch schluchzend sagen können, denn wenn er nur daran dachte, kamen ihm die Tränen.

„Das ist kein Name“ sagte das Kind und schaute ihn an, wie ihn noch nie jemand angeschaut hatte. „Ab jetzt heißt Du „Mein-kleiner-Engel“.“ Naja nicht eben ein geläufiger Name wie Raphael oder Gabriel oder Uriel. Aber Gott vergibt ganz seltsame Namen, angefangen bei sich selbst, das wusste der kleine Engel. Sei es wie sei. „Mein-kleiner-Engel“ wunderte sich und war ein wenig stolz. Sollen die da oben doch den Kopf schütteln, wenn er sich demnächst vorstellte als „Mein-kleiner-Engel“ und nur er wusste, wessen kleiner Engel er war.

Das Jesuskind klatschte in die Hände: „ So jetzt probiere deine Flügel mal aus und flieg zurück in den Himmel“. „Mein-kleiner-Engel“ drehte eine Runde im Stall, flog auf und nieder, umkreiste das Kind, überschlug sich, zeigte alle seine Kunststücke und dachte nicht an den Ober-Engel, der das gar nicht gerne sah. „Engel haben eine Würde zu wahren“, pflegte er zu sagen. Aber das war ihm jetzt alles egal. Er freute sich und mit ihm das Kind in der Krippe. Draußen war Nacht und die Sterne leuchteten. Aber „Mein-kleiner-Engel“ hatte gar keine Lust in den Himmel zu fliegen. „Ich bleib noch was!“, sagte er und hockte sich wieder in seine Ecke, denn inzwischen war Josef wachgeworden.

Josef weckte Maria auf und sie tuschelten miteinander. „Wir müssen weg“, verstand „Mein-kleiner-Engel“, „so schnell wie möglich.“ Und: „wir sollen nach Ägypten hat ER gesagt“. Es dauerte nicht lange und alles war „reisefertig“. Der Esel war gesattelt, ein wenig ausgepolstert für die junge Mutter und das Kind, rechts und links die Satteltaschen mit dem Nötigsten gefüllt. Der Stall so gut es ging aufgeräumt.

„Mein-kleiner-Engel“ begriff alles nicht so richtig. Weshalb wollte man aufbrechen, bevor es Tag wurde, weshalb nach Ägypten? Maria nahm das Kind und Jesus winkte ihm zu und lächelte. „Mein-kleiner-Engel“ flog nach draußen, sah die seltsame Reisegesellschaft und setzte sich auf eine der Satteltaschen. „He, du mußt zurück in den Himmel“, flüsterte ihm das Jesuskind zu. „Mein-kleiner-Engel“ schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei dir“, sagte er und lächelte. Auch wenn er nicht wusste, wie weit Ägypten war und was es bedeutete.

(c)Wilfried Schumacher