Fragen statt Jubel

In diesen Tagen begehe ich den Jahrestag meiner Priesterweihe. In Corona-Zeiten ganz anders. Dieses Mal ganz alleine. Zeit, um sich der Frage zu stellen, was ist heute anders. Anders – nicht im Vergleich zu 1974, anders im Vergleich zu der Zeit vor Corona.

Es hat sich seit 1974 viel verändert. Aus der Kirche des Aufbruchs ist eine Kirche des Rückzugs geworden. Aber im Vergleich zu den 46 vergangenen Jahren sind die letzten Monate doch in meiner Wahrnehmung viel einschneidender gewesen. Nicht nur in der Fleischindustrie deckt die Pandemie Vieles auf.

In meinem Weihnachtsbrief 2019 habe ich noch beklagt, dass mir die Zelebration mangels Gelegenheiten fehlt. Jetzt musste ich 3 Monate darauf verzichten und es fiel mir nicht schwer (bin ich jetzt ein schlechter Priester?). Ich habe schnell gelernt wie ich mich (ich gehöre mit 70 und Übergewicht zur Risikogruppe) und die anderen schützen kann und muss.

Über die Problematik der vielen gestreamten Gottesdienste in den Wochen des Lockdowns ist schon viel Richtiges geschrieben worden. Manchmal hatte ich den Eindruck, als seien die Priester die „Herren“ über die Eucharistie (siehe auch 2 Kor 1,24), kaschiert mit dem Gedanken der Stellvertretung. Das, was dem Volk Gottes nicht möglich war, konnten sie praktizieren. Irgendwo blitzt in meinem Hinterkopf das Wort „Macht“ auf.

Während einer Ferienvertretung habe ich jetzt wieder zelebriert – das gehört  zu meinem Dienst. Wer aber meint, dass ich innere Luftsprünge gemacht habe, irrt sich leider. Ich empfand die Zelebration als anstrengend – immer musste man Hygiene-Konzept und Regeln im Hinterkopf haben. Gesungen wurde nicht bis auf zwei ganz kleine Ausnahmen (Halleluja und Sanctus). In Ermangelung eines Kirchenmusikers musste ich zwischendurch auch noch das Handy steuern, um etwas Musik einzuspielen.

Es war Gottesdienst mit „gebremstem Schaum“ – man sah es den Menschen, die überall auf Abstand saßen, an, dass sie gerne mehr gesungen hätten – wenn da nicht die gefährlichen Aerosole wären. Das Gefühl von Gemeinschaft kam nicht auf. Man saß weit entfernt voneinander und vermied aus guten Grünen jeden näheren Kontakt. Für mich ist in der Messe immer die Interaktion wichtig oder – wie es im Studium nach dem II.Vatikanum immer wieder hieß  – die „participatio actuosa“, die tätige Mitwirkung des Volkes Gottes.
Ich möchte die Stimmung der Menschen erleben und aufgreifen. Ihre Freude und ihre Trauer müssen sich auch in meiner Zelebration widerspiegeln. Nichts von alledem war zu erleben, weil es kaum eine Interaktion gibt – die liturgischen Bücher mit den paar Antworten genügen! Und das wird wohl noch einige Zeit so andauern – wenigstens für jene, die achtsam und sorgsam sind angesichts des unsichtbaren und immer noch gefährlichen Virus. Will uns Gott damit etwas sagen?

Das Wort des Herrn „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ heißt heute „Kommt alle zu mir, meldet Euch an, registriert Euch, hinterlasst Namen und Telefonnummer“ und dann tretet ein, wenn noch Platz für Euch ist“. Weil nicht mehr so viele Menschen in die Kirchen passen, wird die Zahl der Messen mancherorts vervielfacht und man wundert sich, dass gar nicht so viele kommen. Und dabei wurde doch die Entpflichtung vom Sonntagsgebot wieder aufgehoben – aber wen interessiert das? – sowohl beim ersten Schritt, als auch beim zweiten. Die Menschen haben längst mit den Füßen abgestimmt und die Einhaltung des Sonntagsgebotes in Eigenregie übernommen. Wen hat es interessiert? Corona bringt es an den Tag. Und wen interessiert es? Will uns Gott damit etwas sagen?

Wir klagen über den Relevanzverlust der Kirchen. Wir waren in der Krise nicht systemerhaltend; sogar die Bundeskanzlerin hat die Kirchen in ihrer Ansprache nicht erwähnt. Da haben sich manche strammen Katholiken (weniger die *innen) ereifert und verwiesen auf die Caritas, die kirchlichen Schulen, die Krankenhaus-Seelsorge usw. Aber wird das überhaupt noch als kirchliches Handeln identifiziert? „Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten“, heißt es von der Ur-Kirche in der Apostelgeschichte (Apg 2,47) als sie noch weit davon entfernt war, systemrelevant zu sein. Weshalb hat Gott das eingestellt – schon vor Corona?

Nun bin ich nicht mehr im Dienst und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort werden gewiss viele Beispiele anführen, wie und wo Kirche in den letzten Wochen präsent war. Manche hatten sogar mehr zu tun als sonst (geht das überhaupt?). Da wir keine Hygiene-Fachleute sind, mussten sich alle Dinge aneignen, die ihnen mehr als fremd waren. Aber besonders die Priester haben mit ihrer Priesterweihe alle Fähigkeiten erhalten – auch wenn sie bisweilen verschüttet sind, weil nicht gebraucht (siehe das Aufstellen von Hygienekonzepten). Sie müssen halt eben alles sein und können – Verwaltungsfachleute und Finanzmanager, Experten für Krankenhaus-Management, für Personalführung u.v.a.m.

Im Bistum Trier hat der Bischof jetzt einen römischen Schuss vor den Bug bekommen, weil er die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen wollte. Der Priester muss der Allzuständige und Letztverantwortliche sein – und damit festigt man nicht nur seine Macht, sondern auch die seines Bischofs, dem er im Gehorsam verpflichtet ist.

Überhaupt die Macht und ihr Erhalt – sie treibt seltsame Blüten. – Auch an ganz unscheinbaren Pflänzchen. Da geht das Bild eines Pfarrers durch die Presse, der am Karsamstag die Speisen segnet, die in einem Autocorso an ihm vorbeigefahren werden. Welche eine Kreativität! Weil die Weihwasserbecken in den Kirche leerblieben sind, gab es mancherorts kleine Fläschchen mit geweihtem Wasser oder Weihwasser im Erfrischungstuch-Format. Ich frage mich, warum hat man nicht die Getauften und Gefirmten angeleitet, selbst einen Segen über die Speisen oder über das Wasser zu sprechen? Ich weiß, wir können nicht leichtfertig die Macht – und wenn es nur die Macht über den Segen Gottes ist – aus der Hand geben. – Will uns Gott damit etwas sagen?

Ich merke, ich stelle viele Fragen – eigentlich ist es immer die Gleiche – und ich habe keine Antwort. Wo wird in der Kirche um die Antwort gerungen? Wo gibt es das Gespräch darüber? Gerne auch digital. Stattdessen hören wir auch nach den jüngsten Kirchenaustrittszahlen immer wieder die gleichen wortreichen Beteuerungen, die wir schon seit Jahren kennen ohne dass ihnen Taten gefolgt wären.

Eines weiß ich nur, es gibt kein zurück in die Vor-Corona-Zeit. Es wird eine neue Normalität geben müssen. Das II.Vatikanum sprach von den „Zeichen der Zeit“, die wir im Lichte des Evangeliums deuten müssen. Wenn die „Corona-Krise“ kein „Zeichen der Zeit“ ist, dann weiß ich nicht, auf welche Zeichen wir dann achten müssen.

Ich sprach eingangs von der Zelebration, die ich vermisste. Jetzt muss ich sagen: ja, ich vermisse sie weiterhin – aber nicht die unter Corona-Bedingungen. Ich werde noch eine Zeit ohne auskommen müssen und erfreue mich stattdessen an der lukas19-Community, die sich im Shutdown gründete und sehr beharrlich besteht. Es ist mir jeden Sonntag eine Freude, zu erleben, wie Menschen miteinander das Wort lesen und auslegen – der Tisch des Wortes ist reichhaltig gedeckt. Das genügt. Will mir Gott damit auch etwas sagen?