Heute ist Martinsabend! In diesen Corona-Zeiten ohne die gewohnten Martinszüge. Trotzdem gilt es, des Heiligen zu gedenken. Dabei erinnere ich mich gerne an eine ungewöhnliche Martinsdarstellung. Sie begegnet uns in Rottenburg. Nicht von oben herab wendet sich der Soldat dem Bettler zu. Er ist vom hohen Ross herabgestiegen. Aug in Aug stehen sich die beiden gegenüber oder wie man heute sagt „auf Augenhöhe“. Das gemeinsame Fundament ist das Kreuz.
Martin zeigt sich barmherzig. Die Legende erzählt, dass Christus nachts imTraum dem Martin erscheint und ihm so deutlich macht, was das Schriftwort meint: „Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
„Barmherzigkeit“ bedeutet wörtlich: den anderen wie in einem Mutterschoß bergen. Das geht nicht von oben herab. Dafür muss man schon vom Pferd herabsteigen.
Aber geht es nur um „Barmherzigkeit“? Wird nicht durch das Handeln des Martins das „System“ bewahrt? Der Arme wird zwar vor dem Erfrieren gerettet; aber was ändert das an seiner Lebenssituation? Es gibt weiter den da oben auf dem Pferd und den da unten, der im Dreck sitzt.
Von Martin wird berichtet, dass das Erlebnis am Stadttor von Amiens, wo es lokalisiert wird, ihn existentiell verändert hat. Wir erleben zur Zeit eine Pandemie, die auch unser Leben durcheinander wirbelt – vielleicht mehr noch als die Begegnung Martins mit dem Bettler. In seiner jüngsten Enzyklika „Fratelli tutti“ stellt Papst Franziskus fest: „Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir »die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen.«“(Fratelli Tutti Nr. 168) Schon 2014 hatte der Papst es konkretisiert: „... keine Familie ohne Wohnung, kein Bauer ohne Boden, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Mensch ohne die Würde, die die Arbeit gibt.“
Mir wird bewusst: es geht in der Martinsgeschichte um mehr als um das Mantel-Teilen. Es reicht nicht mehr, nur vom Pferd herabzusteigen, handeln müssen wir. Papst Franziskus gibt uns Anregungen genug.