Der tote Punkt und der Wille Gottes

Das, was uns fremd ist, macht uns das Leben oft schwer. Nur mühsam können wir uns mit dem anfreunden, was uns nicht geläufig und bekannt ist. Das können banale Dinge, aber erst recht fremde Menschen sein. Je nach Situation und Horizont macht das Ungewohnte, das Neue, das Fremde, der Fremde uns Angst.
Das muss auch Jesus erleben:
Die scheinbare Unordnung, die durch den Mann aus Nazareth entsteht, das Ungewohnte, ja das Fremde in seinen Worten und seinem Tun, lässt in den Schriftgelehrten, die extra von Jerusalem herbeigeeilt waren, nur noch eine einzige Wertung zu – sie verteufeln ihn im wahrsten Sinne des Wortes: Er ist von Beelzebul besessen!

In den Augen dieser Leute ist Jesus von Sinnen. Im ausgehenden Mittelalter hieß es schnell „Sie ist eine Hexe!“ – Damit war die Lösung naheliegend, die Gefahr muss vernichtet werden.
Auch die Verwandten Jesu sind nicht frei von solchen Gedanken. Sie wollen ihn, wie es im Evangelium heißt, „mit Gewalt“ zurückholen. Sie wollen den Sohn und Bruder wieder in ihre Lebenswelt zurückführen, dorthin, wo sie ihn leichter unter Kontrolle haben, wo sie ihn vielleicht dahin bringen können, sich ihren Lebensregeln anzupassen. Ein anderes Selbstverständnis gestehen sie ihm nicht zu. Ein Leben mit anderen Prioritäten, ein anderer Glaube, ein anderes Handeln kommt für sie nicht in Frage.

Jesus grenzt sich von diesem Denken klar ab. Er sagt nicht: weil du anders denkst, handelst, lebst, weil du anders glaubst, weil dein Bild von Gott anders ist, bist du unannehmbar, bist Du gar des Teufels.

Für Jesus ist das entscheidende Kriterium – dass der Mensch dem Willen Gottes entsprechend lebt. Allein dies setzt ihn in Beziehung zu ihm, macht ihn zum Bruder, Schwester, Mutter.

Nicht Abstammung, nicht Tradition, nicht irgendwelche leeren Rituale, nicht irgendeine gemeinsame Überzeugung führen zur Gemeinschaft mit ihm – allein die Bereitschaft, den Willen Gottes zu tun. Und das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen.

Diese Diversität des menschlichen Lebens, die Vielfalt der Lebensentwürfe finden ihre Einheit in einem Leben nach dem Willen Gottes. Josef Ratzinger sagte als er noch nicht Papst war: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt.“ Von dieser Diversität ist in der Kirche heute nicht mehr viel zu spüren. Statt Vielfalt, statt Pluriformität erleben wir ein Streben nach Uniformität.

Als Kardinal Marx dem Papst seinen Rücktritt angeboten hat, schrieb er ihm „Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen „toten Punkt“. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist als Sie das am Freitag gehört oder gelesen haben: ich habe zuerst einmal die Luft angehalten. Diese Analyse ist so klar, so richtig und auch niederschmetternd.

Kardinal Marx zitiert mit diesem Wort einen Gedanken von Alfred Delp, den dieser in den 40erJahren des letzten Jahrhunderts geäußert hat. Damals schrieb Alfred Delp: „Was gegenwärtig die Kirche beunruhigt und bedrängt, ist der Mensch. Der Mensch außen, zu dem wir keinen Weg mehr haben und der uns nicht mehr glaubt. Und der Mensch innen, der sich selbst nicht glaubt, weil er zu wenig Liebe erlebt und gelebt hat.“

Ja, wir haben die Zugänge, die Wege zu den Menschen außen verloren. Sie stehen uns gleichgültig gegenüber; schlimmer noch: sie verlassen uns scharenweise. Das kann uns nicht egal sein – ich möchte nicht zum „heiligen Rest“ gehören nach dem Motto: Der Letzte macht das Licht aus!“ Ich möchte vor allen Dingen die Menschen nicht verlieren, denn ich glaube, wir haben eine Botschaft, die dem Menschen von heute gut tun kann.

Allerdings: durch den sexuellen Mißbrauch und den Machtmissbrauch in der Kirche haben die Menschen – wie es Kardinal Marx am Freitag in die Kameras sagte: – „Unheil“ statt „Heil“ erfahren. Die Menschen vertrauen uns nicht mehr und – wie es gestern ein Firmling formulierte – „die Kirche hat ein schlechtes Image“. Daran leiden viele!

Hinzu kommt: in allen deutschen Diözesen erleben wir zur Zeit Strukturreformen. Alle Einheiten werden größer gemacht und entfernen sich immer mehr von den Menschen. Ein Kleid, das zu eng geworden ist, kann man nicht immer weiter mit Flicken weiter machen – irgendwann verliert es die Form und wird unansehnlich.
Wir sind immer noch in vielen Dingen Priester- und Klerus-fixiert. Und weil wir zu wenige davon haben, müssen alle leiden: Laien wie Klerus.

Auch wenn es weh tut, weil wir so vieles gewohnt und nie anders gekannt haben – aber wir werden von manchen Dingen Abschied nehmen müssen. Tiefgreifende Veränderungsprozesse sind notwendig. Wir brauchen neue Aufbrüche, neue Anfänge. Das spüren viele von uns, während andere sich noch krampfhaft an das Vergangene klammern. Es würde den Rahmen dieses Textes sprengen, alles Notwendige aufzuzeigen.

Vielleicht sagen Sie jetzt: das klingt aber alles nicht sehr ermutigend. Da haben Sie Recht, wenn man am „toten Punkt“ ist, dann braucht man sehr viel Kraft, um nicht aufzugeben – und ich kenne viele, die aufgegeben haben.
Erinnern Sie sich an den letzten Satz des Evangeliums: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter“.

Der Wille Gottes offenbart sich nicht allein dem Papst, dem Bischof oder Pfarrer. Der Wille Gottes offenbart sich jedem von uns. Überlassen Sie deshalb die Kirche, Ihre Gemeinde nicht den Amtsträgern, sondern legen Sie selbst Hand an, wo sie den Willen Gottes für sich und die Gemeinschaft erkannt haben. Die Zeit braven Herde ist vorbei, seien Sie kreativ, gestalten Sie mit – dann wird der tote Punkt vielleicht wirklich zu einem Wendepunkt.

Kumpane Jesu

Fronleichnam – zum 2.Mal ohne Prozession. Halten wir das jetzt einfach aus? Nächstes Jahr wird es wieder so sein  wie vorher, trösten wir uns. Tomas Halik, tschechischer  Priester und Theologe, der viele Beschränkungen kirchlichen Lebens erlebt hat, fragt mit Recht: „Was macht einen Christen zu einem Christen, wenn der traditionelle »kirchliche Betrieb« plötzlich aufhört zu funktionieren?“ Was bleibt uns dann an diesem Festtag ohne Prozession – nur das Warten auf bessere Zeiten? Oder liegt in dieser Beschränkung kirchlichen Lebens nicht auch ein Anruf Gottes?

Was geschieht da Fronleichnam?
Wir tragen ein Stück Brot durch die Straße – wenigstens für die Augen der meisten Zuschauer? Für uns ist es die Eucharistie! Das wissen und glauben die Wenigsten, die uns sehen. Ihnen zeigen wir ein Stück Brot. Jemandem ein Stück Brot zeigen aber heißt letztlich, ihn einladen zum Essen, zum Brot teilen.

(c) Martha Gabauer/pfarrbriefservice

In unserer Sprache gibt es ein Wort, das ursprünglich bedeutete, das tägliche Brot miteinander teilen, das aber heute einen etwas anderen Beigeschmack bekommen hat: „Kumpan“.

Es kommt aus dem lateinischen „conpanis“ und meint denjenigen, der die gleichen Erfahrungen mit mir macht, die gleiche schwere Arbeit zu leisten hat, der mit mir so vieles teilt, was der Tag bringt. Auch im Französischen gibt es dieses Wort: „copain“.Es meint den Menschen, der sich aus allen anderen heraushebt und der mir in Freundschaft verbunden ist, einen Menschen, der mir viel bedeutet, der mir so notwendig ist, wie das tägliche Brot.

So gesehen sind wir alle „Kumpane Jesu“, einmal weil er dieses Brot mit uns teilt, und zum anderen, weil er selbst dieses Brot ist –das Geheimnis unseres Glaubens schlechthin, und wir ihn brauchen wie das tägliche Brot.


Wir alle sind also Kumpane Jesu – 

Aber wir sind keine geschlossene Gesellschaft. Dies ist hier keine Veranstaltung nur für die Frommen. Wir sind allenfalls die, die der Einladung gefolgt sind, ein Bruchteil derjenigen, die alle eingeladen sind.

Auf Jesu Gästeliste stehen viel mehr, auch diejenigen, die sich vielleicht gar nicht vorstellen können, eingeladen zu sein, und von denen manche von uns sich nicht vorstellen können, dass sie dazu gehören: zum Beispiel  die wiederverheiratenen Geschiedenen, die Homosexuellen, die Transgender-Menschen, viele, die uns inzwischen den Rücken zugekehrt haben.

Unser Papst will, dass wir ihnen diese Einladung überbringen: „Jesus zu folgen heißt: lernen, aus uns selbst herauszugehen, um den anderen entgegen zu gehen, um zu den Randgebieten des Daseins zu gehen“, so sagt er. „Lasst uns als erste zu unseren Brüdern und Schwestern gehen, besonders zu denen, die am weitesten weg sind, zu denen, die in Vergessenheit geraten sind, zu denen, die Verständnis, Trost und Hilfe brauchen. Es gibt ein sehr großes Bedürfnis, das lebendige Zeugnis des barmherzigen Jesus, der reich an Liebe ist, zu den Menschen zu bringen![1]

Er hat Recht, wenn er in seiner ersten Enzyklika schreibt: „Die Eucharistie ist […] nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“. [2]

Christus klopft an unsere Türe, sagt der Papst. Aber nicht um hereinzukommen, sondern dass wir ihn herauslassen und wir mit hinausgehen.
Als Kumpane Jesu wissen wir: nicht nur das Brot, auch Kommunikation und Gemeinschaft sind Lebens-mittel. – Wo sie gestört sind, müssen sie geheilt werden. Wo sie fehlen, müssen sie gestiftet werden. Wo sie tot sind, wieder belebt werden. Wo sie abgebrochen sind, müssen Brücken gebaut werden. In beschreiblicher und unbeschreiblicher Weise hat Jesus dies vorgelebt, hat sich selbst zum Lebensmittler und Lebensmittel gemacht und Communio gestiftet. Beschreiblich im Evangelium, unbeschreiblich in der Eucharistie.

Jammern wir nicht, dass wir Christus nicht in der Monstranz auf die Straße tragen können und schielen wir nicht auf Fronleichnam 2022. Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Gehen wir selbst hinaus als Kumpane Jesu unter die Menschen.

Und das mit Liebe und mit der Zärtlichkeit Gottes, mit Achtung und mit Geduld, im Wissen, dass wir unsere Hände, unsere Füße, unser Herz zur Verfügung stellen, dann aber Gott es ist, der sie führt und der all unser Handeln fruchtbar macht.[3]

Vielleicht ist das der Anruf Gottes an diesem Tag! Wir haben genug zu tun!

[1] 27.3.2013

[2] EG 47

[3] Papst Franziskus 27.3.2013