Plädoyer für eine Kirche der Zärtlichkeit

Die 50 Jahre alte Primizkerze brannte heute in der Pfarrkirche in Dernau aus Anlass meines Goldenen Priesterjubiläums, das ich dort feiern konnte.
Evangelium: Mk 5,21-24; 35b-43

Haben sie auch in den letzten Tagen gestaunt über die Bilder, die uns das Fernsehen von der Fußball Europameisterschaft vermittelt hat: wie sich da Tausende von Menschen in den sogenannten Fanzonen versammelt haben? Daran musste ich denken als ich das Evangelium las.

Jesus hatte einen furiosen Auftakt seines öffentlichen Wirkens: die Menschen drängen sich um ihn, laufen ihm nach, denn er heilte viele, so dass alle, die von Leiden gequält waren, sich auf ihn stürzten, um ihn zu berühren. Überall wo er hinkommt, kommen ihm die Menschen entgegen. Auch als er nach einem Ausflug ans Ostufer des Sees Genesareth wieder nach Kafarnaum zurückkehrt. Es versammelt sich wieder um ihn „eine große Menschenmenge“, wie der Evangelist Markus berichtet. Es werden nicht so viele gewesen sein wie in den Fanzonen der Europameisterschaft, aber es ist schon vergleichbar. Modern könnte man sagen: Jesus ist im Stress

Der Synagogen-Vorsteher Jairus, der zu ihm kommt, ist gewiss nur einer von vielen an diesem Tag, die Jesus ihr Leid klagen. Sein Kind liegt im Sterben. Jesus soll sie vor dem Tod retten. Ein verzweifelter Vater, der diesem Jesus zutraut, die aussichtslose Lage zu wenden. Und was macht Jesus? Markus schreibt ganz lapidar: da ging Jesus mit ihm.

Erahnen Sie, was das für Jairus bedeutet: Jesus geht mit ihm! Einer aus der großen Masse, für den Jesus jetzt da ist. Er wird für ihn zum Weggefährten.
Das Leben eines Menschen wird ja oft als Weg verstanden! Unser Lebensweg kennt viele Zuschauer, die oft unbeteiligt am Wegesrand stehen, sich oft sogar noch freuen, wenn es nicht richtig vorwärts geht und man sich quält auf seinem Weg, oder die meinen, mit klugen Ratschlägen wäre schon geholfen.

Viele von Ihnen hier im Tal haben in den Tagen, Wochen, Monaten und Jahren seit der Flut erfahren, wie wichtig die Gegenwart von besorgten und hilfsbereiten Menschen ist, die zupacken und zuhören. „Ich möchte dass einer mit mir geht, der das Leben kennt der mich versteht“,  heißt es in einem modernen Kirchenlied.

Einen solchen Menschen zu treffen, der bereit ist, den Rhythmus des andern zu übernehmen und ihm nicht seinen Schritt aufzuzwingen, das ist der Beginn einer Hoffnung, die Wende in einer Krise. Jesus geht mit  Jairus und wird für ihn zum Hoffnungszeichen. So wie die vielen Helferinnen und Helfer es für viele von Ihnen waren.

Die Geschichte, die Markus erzählt, fragt uns aber auch wie wir es halten, wenn wir Menschen begegnen, die Hilfe brauchen. Sind wir bereit, mit zu gehen?

Jesus begleitet den Synagogenvorsteher auf dem Weg zu seinem Haus. Da kommen ihnen die Leute des Jairus entgegen und bringen die Todesbotschaft: „das Mädchen ist gestorben“ und sie fügen hinzu „was bemühst du den Meister länger?“ Eine Heilung trauen sie Jesus zu. Mit dem Tod aber ist die Grenze ihrer Erwartungen überschritten. Der Fall ist für sie aussichtslos, erledigt.

Nun lesen wir da im Evangelium gehört „ Jesus, der die Worte gehört hatte.“ Wörtlich im griechischen, ursprünglichen Text heißt es jedoch: „Jesus, der diese Worte überhört hatte“ oder „der an ihnen vorbei gehört hatte.

Die Leute des Jairus überbringen eine Botschaft des Todes, Worte des Todes, salopp formuliert „Parolen des Todes“. Solche Parolen kennen wir. Sie werden immer lautstark verkündet. Da heißt es „ es hat ja doch keinen Zweck“ oder „aus und vorbei“ oder „da kann man nichts machen“ oder „früher….“

Alles Worte der Resignation, Worte, die das Leben verhindern, Worte, die Gott und den Menschen nichts zutrauen. Solche Parolen des Todes gibt es überall! Sie verhindern, dass Lösungen gesucht werden, die anders sind als bisher Erlebtes und Erfahrenes. Sie verhindern, dass neue Ideen sich durchsetzen. Sie verhindern aber auch, dass geduldig gewartet wird,

Jesus überhört die Parolen des Todes, er hört daran vorbei:“ Fürchte dich nicht, glaube nur“, sagt er dem gewiss entsetzten Jairus, für den wohl in diesem Moment alles aussichtslos erschien.
Wo nach menschlichem Ermessen alles aus ist, wo es so scheint, dass der Tod alles gelöst hat, macht Jesus deutlich, dass dies für ihn nicht die letzte Instanz ist. Statt der Parolen des Todes kündigt er vom Vertrauen in das Leben.

Kritisch muss ich mich fragen, wie halte ich es in meinem Leben, da wo ich lebe, da wo ich mich engagiere, da wo ich eingesetzt bin, da wo ich arbeite. Verbreite ich lieber die Parolen des Todes oder künde ich vom Leben? Höre ich auf die Parolen des Todes, die andere lautstark hinausschreien oder überhöre ich sie? Verhindere ich so das Leben oder eröffne ich ihm eine Möglichkeit?

Jesus lässt sich nicht erschüttern, er geht mit dem Vater und nimmt drei seiner Jünger mit. Entscheidendes bahnt sich an: die drei Apostel und die Eltern des Mädchens werden Zeugen des Lebens.

Jesus tritt an das Totenbett des Mädchens, fasst es bei der Hand und sagt „Talita Kum“ das ist aramäisch, die Muttersprache Jesu. Übersetzt heißt das: „Mädchen, ich sage dir steh auf“. Besser aber noch wird die Anrede mit „Lämmlein“ übersetzt . Die Zeugen ahnen wohl was geschehen ist: das Leben ist eingebrochen in die Kammer des Todes.

Ein Augenblick großer Zärtlichkeit!

Da bin ich bei einem Thema von größter Aktualität: in dieser Woche ist wieder einmal die kirchliche Statistik veröffentlicht worden 400.000 Menschen haben uns im vergangenen Jahr verlassen. 400.000 von denen jeder und jede Einzelne wichtig ist.

Man könnte resignieren, man könnte sich fragen: was soll ich denn noch in dieser Gemeinschaft, die in unseren Breiten immer kleiner wird? Ich kann viele verstehen, die uns den Rücken zukehren, die keine Hoffnung mehr haben, dass sich etwas verändert. Und ich gestehe, dass ich von denen da oben auch nicht mehr viel erwarte.

Und trotzdem: ich bin ein „Kind des II.Vatikanums“, oder anders gesagt: ohne das II.Vatikanische Konzil wäre ich nicht Priester geworden. Die große Errungenschaft dieses Konzils ist die Rückkehr zu einem Bild von Kirche, das im Mittelalter und erst Recht als Reaktion auf die Reformation verlorengegangen war: die Kirche das Volk Gottes.

Volk Gottes, damit sind alle gemeint, Laien und Kleriker, alle gehören dazu. Alle haben eine gemeinsame priesterliche Würde. Als Getaufte und Gefirmte haben sie eine gemeinsame Verantwortung.

Eines der wichtigsten Dokumente des Konzils ist die Pastoralkonstitution „GAUDIUM ET SPES – ÜBER DIE KIRCHE IN DER WELT VON HEUTE“ . Sie beginnt mit den Worten: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“

Darum geht es: wir müssen die Trauer und Angst und die Freude und Hoffnung teilen. Wir – nicht nur der Papst und die Bischöfe und vielleicht auch noch die Priester.

Wir, hier in Dernau oder wo wir auch leben.

Heinrich Böll hat einmal geschrieben: „ im Neuen Testament steckt eine Theologie– ich wage das Wort– der Zärtlichkeit.

Wenn wir dieser Theologie folgen, dann müssen wir eine Kirche der Zärtlichkeit sein, dann müssen wir Weggefährtinnen und Weggefährten der Menschen sein und die Parolen des Todes überhören.

Dabei warten wir nicht auf die da oben, sondern wir selbst praktizieren, was der Apostel Petrus uns in der Lesung zugerufen hat: Ihr seid Gottes Volk.

Und damit haben wir genug zu tun!

Die heilende Berührung: Ein Bild von Glaube, Hoffnung und Sehnsucht

Messe am 50.Jahrestag der Priesterweihe

Evangelium (Mk 5, 24b-34)

Und es folgte ihm eine große Menschenmasse, und sie bedrängten ihn.
Da kam eine Frau, die schon seit zwölf Jahren an Blutfluß litt: sie hatte schon vieles erlitten von zahlreichen Ärzten; sie hatte ihr ganzes Vermögen aufgewandt, doch es hat nichts genutzt, es war sogar noch schlimmer geworden.
Sie hatte von Jesus gehört. Nun kam sie in der Menge von hinten her und berührte sein Gewand. Denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt. Und sogleich versiegte die Quelle ihrer Blutung, und sie spürte am ganzen Leib, daß sie von der Plage geheilt war.
Da merkte Jesus bei sich die Kraft, die von ihm ausgegangen war, er wandte sich in dem Gedränge um und sagte: Wer hat mein Gewand berührt? Und seine Jünger sagten ihm: du siehst doch die Volksmenge, die dich bedrängt, und du sagst, wer hat mich berührt? Und er blickte umher, und sah die, die das getan hatte.
Die Frau aber fürchtete sich und zitterte; denn sie wusste, was ihr geschehen war. Sie kam, fiel vor ihm nieder und erzählte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte zu ihr: Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden und sei gesund von der Plage.

Was ist das denn für ein Evangelium an einem solchen Tag? Und wahrscheinlich darüber jetzt auch noch predigen. Hoffentlich nicht länger als 8 Minuten, wie Papst Franziskus empfiehlt. Wäre es nicht reizvoller, auf 50 Jahre zurückzublicken. Reizvoller vielleicht – vielleicht auch depressiver.

Aber ich möchte das tun, was mir immer wichtig war und ist: dass wir uns unter das Wort Gottes stellen und schauen, ob es uns etwas zu sagen hat:

In meiner Wohnung hängt ein Bild, das mir ein Freund aus Israel mitgebracht hat. Es ist eine Reproduktion des Altarbildes in der Krypta von Magdala am See Genezareth,  einer meiner Lieblingsorte am See – auch wenn er von einer sehr fundamentalistischen Gemeinschaft verwaltet wird.

Auf den ersten Eindruck befremdet und fasziniert das Altarbild. Es stammt von einem italienischen Künstler (Daniel Cariola) Man sieht ein Gewirr von Männerbeinen und -füßen, das erahnen lässt, welche Menge an Menschen in der Szene versammelt sind. Ein weißes bodenlanges Gewand in der Mitte. Durch das Gewirr der Beine hindurch findet eine  Frauenhand ihren Weg, um das Gewand Jesu zu berühren. Eine Illustration des Evangelium-Textes.

Von der Frau, deren Hand wir sehen, wissen wir, dass sie schon zwölf Jahre an ihrer Krankheit litt, die wir nicht näher deuten können. Viele Leiden waren damit verbunden – körperliche und seelische.

Ihre Krankheit war keineswegs nur ein medizinisches Problem. Der Blutfluss machte sie unrein, schloss sie aus vom sozialen und kultischen Leben Israels. Sie durfte niemandem zu nahe kommen, weil Nähe auch unrein machte. 12 Jahre ohne Hilfe und Heilung, 12 Jahre geächtet. Sie war praktisch eine Tote, obwohl sie lebte.
Nun könnte man an dieser Stelle über die ach oft so unmenschlichen Reinheitsvorschriften im Judentum sprechen. Doch viele der für uns unverständlichen Vorschriften hatten ihren Sinn darin, die Gemeinschaft vor ansteckenden oder damals noch undurchschaubaren Krankheiten zu schützen. Aber man kann es drehen oder wenden wie man will, Menschen wurden dadurch ausgegrenzt und geächtet.

Dass Menschen ausgegrenzt werden aus der Gesellschaft, ist keine Sache nur in grauen Vorzeiten. Das gibt es auch heute noch.  Die Notwendigkeit der Teilhabe von ausgegrenzten Menschen am gesellschaftlichen Leben ist ein drängendes Thema.

Die Frau im Evangelium hat ihr ganzes Vermögen in ihre Heilung investiert. Alle Versuche, die Not zu lindern, waren gescheitert. Sie hatte wohl von Jesus gehört. Nun drängt sie sich zielsicher – und verborgen in der Menge – an Jesus heran. Sie berührt – ohne Jesus vorher anzusprechen – sein Gewand. Von Jesus geht nun eine Kraft aus, die sie heilt.

Kein magischer Vorgang, sondern die Kraft ist ein Zeichen für die Macht, die hier am Werk ist, die Macht Gottes.

Eine Szene, die mich fragt nach meinem Glauben? Was traue ich Gott zu? Bin ich wie diese Frau, die selbst nach 12 Jahren Ächtung und Heilungsversuchen, nicht aufgibt, die – wie unser Bild zeigt – den Weg durch die vielen Beine, der Männer sucht, die sie 12 Jahre ausgegrenzt haben. Habe ich dieses Vertrauen oder würde ich vorher aufgeben?

Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende. Jesus geht auf die Suche nach der Frau. Das muss man sich bildlich vorstellen. „Eine große Menschenmasse“ ist dort, so schreibt es der Evangelist Markus. Ich denke spontan an die Fanzone bei der EM. Wie in aller Welt, in der Masse jemand finden – das sagen ihm auch seine Jünger.
Aber das erleben wir im Neuen Testament immer wieder: für Jesus zählt der einzelne Mensch! Das zu wissen tut gut – denn oft erleben wir uns als einen oder eine von vielen, sind wir nur ein Teilchen in der Masse, nur eine Nummer im System. Für den Herrn zählt jeder und jede Einzelne. Es mag Situationen im Leben geben, wo das sehr wichtig ist.

Diese Zweisamkeit von Jesus und der Frau spiegelt sich auch wieder in den Worten des Evangelisten Markus, der hier wenigen Worten ein Bild großer Intimität zeichnet: „und sie sagte ihm die ganze Wahrheit“ (Mk 5,33). Damit ist wohl nicht ein „Geständnis“ der Frau gemeint, sondern es ist der Raum einer tiefen Begegnung mit dem, der vor Pilatus sagen wird „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“.

Wenn wir einer feministischen Theologin an dieser Stelle folgen wollen, bringt die Frau in dieser Begegnung ihre Gotteserfahrung ins Wort.[1]

Die „Rettung“ der Frau ist nicht nur als körperliche Genesung, sondern als „Herstellung einer gelungenen Gottesbeziehung“ zu verstehen. „Gotteserfahrung, Gottesbeziehung“, das klingt so groß, so weltfern, so wenig realistisch. Aber hören wir noch einen Augenblick hin: Geh in Frieden, sagt Jesus zu ihr.

Frieden bedeutet in der Sprache Jesu „Shalom“.
Shalom, das meint nicht nur die Abwesenheit von Streit und Krieg. Das meint auch Gesundheit, Sicherheit, Frieden, Unversehrtheit und Ruhe – sozusagen paradiesische Zustände, in denen der Schöpfer und sein Schöpfer in Harmonie miteinander lebten.

Spüren Sie, wohin uns die Geschichte führt: ich gebe ehrlich zu, diesen Shalom, diesen Frieden wünsche ich mir auch. Er ist der Ausweis der Beziehung zu Gott, der Möglichkeit einer Gotteserfahrung.
So ist am Ende der Geschichte die Rede von der Sehnsucht in meinem, vielleicht auch in Ihrem und Eurem Leben: Was ersehne ich in meinem Leben?

Nelly Sachs, die jüdische Literatur-Nobelpreisträgerin, schreibt:
Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres – Das ist des Menschen Größe und Not: Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe. Und wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf.

Etwas von dieser Sehnsucht hat uns heute auch hier zusammengeführt. Deshalb ist diese Stunde so wichtig.

[1] so Ursula Metternich in „Sie sagte ihm die ganze Wahrheit“. Die Erzählung von der „Blutflüssigen“ – feministisch gedeutet.

„Die da war es“

Haben Sie sich nicht auch schon mal gefragt: woher kommt eigentlich das Böse? Warum können Menschen nicht friedlich miteinander leben,  einander achten, respektieren, nicht belügen und betrügen, nicht nach dem Leben trachten? Wieso können wir Menschen nicht einfach nur gut sein? Das wäre wahrlich paradiesisch.
Woher kommt das Böse? Das haben sich die Menschen immer schon gefragt. Und sie haben versucht eine Antwort zu finden, indem sie sich Geschichten erzählt hatten haben.

Zum Beispiel die Anhänger des Mithras Kultes: sie erzählten sich, das Mithras einen Stier opfern musste, damit sich aus dem Blut des Stieres die Erde und alles Leben neu regenerieren konnte. Allerdings gab es einen kleinen Skorpion, der sein Gift in das herunter tropfende Blut spritzte. So dachten sie, hat das Böse die Welt vergiftet.

Wir haben eben in der Lesung auch eine Geschichte gehört, eine Geschichte aus der Bibel, aus den ersten Kapiteln des Alten Testaments. (Gen 3,) Auch ein Versuch, zu erklären, wie ist das Böse in die Welt gekommen und was hat es damit auf sich.

Was ist passiert?
Adam und Eva hatten nach biblischem Zeugnis nicht mehr geglaubt, dass Gott es gut mit ihnen meint. „Hat Gott wirklich gesagt, ihr dürft von keinem Baum des Gartens essen?“, fragt die Schlange und lenkt so die Konzentration Evas auf den einen Baum, der tabu ist. Eva weiß schon: Von den Früchten der Bäume im Garten dürfen wir essen; nur wenn wir von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, essen, werden wir sterben.
Jetzt hat die Schlange leichtes Spiel: „Nein, ihr werdet nicht sterben. Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse.“
Und damit nimmt die Sache ihren Lauf!

Da wird uns etwas vorenthalten! – solche Gedanken kennen wir. Da sind wir alle empfindlich! Wer mag das schon?

Also greifen die beiden zu und sie merken plötzlich, der paradiesische Zustand ist vorbei. Sie entdecken, dass sie nackt sind. Was sie bisher nicht gestört hat, beschämt sie jetzt. Sie verstecken sich.

„Wo bist Du?“ sucht Gott den Menschen.

Auf einem über 1000 Jahre alten Bronzeportal am Hildesheimer Dom hat ein Künstler diese Szene treffend dargestellt:
Man sieht Gott, der auf die Menschen zeigt. Adam aber zeigt auf Eva: „die war es!“ und Eva zeigt auf die Schlange „die war es!“

Das kennen wir alle – Schuld sind immer die anderen. Das kann man schon im Kindergarten beobachten. Das ist so in der Familie, im Freundeskreis, in der Schule, am Arbeitsplatz.

Adam macht es noch schlimmer: „Die Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben. So habe ich gegessen.“ Das heißt im Klartext: Du Gott, bist es schuld, dass ich meinen freien Willen missbraucht habe!
Hier wird die Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. Plötzlich ist der, der anklagt, der Angeklagte. Wahrlich: ein Teufelskreis.

Was kann uns erretten? Von König David wird berichtet, dass er die Frau eines Nachbarn schwängerte und dass er ihren Mann bei der nächsten Schlacht in die vorderste Reihe schickte, damit dieser umkomme und David die Frau zu sich nehmen konnte. Es braucht den Propheten Nathan, der vor den König tritt und ihm klar macht: Du bist der Mann, der hier schuldig geworden ist. (2 Sam 12).

Das ist der Weg aus dem Teufelskreis der gegenseitigen Schuldzuweisungen: zu erkennen, ich bin der Mann, ich bin die Frau, ich bin der Mensch, der seinen freien Willen gebraucht hat, um Falsch zu handeln und Böses zu tun.

Noch eine Bemerkung zu diesem Text: Weil die Frau als erste von der Frucht gegessen hat, hat man im Verlauf der Kirchengeschichte begonnen, die Frau als Ursache für die Sünde zu betrachten.
Damit angefangen hat Augustinus um 400 nach Christus. Er wertete die Frau stark ab mit der Begründung, sie habe den Mann verführt. Der Mann habe nur gesündigt aus Solidarität, weil er die Frau in ihrem Elend nicht allein lassen wollte.
Und das zieht sich durch die Geschichte durch bis in die Gegenwart.

In der Schöpfungsgeschichte lesen wir: „Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie“. Wir haben es jahrhundertelang überlesen und nicht vom Menschen, sondern vom Mann „als Krone der Schöpfung“ gesprochen. Darunter leiden die Frauen bis heute in vielerlei Hinsicht!

Es ist eine Haltung, eine Überzeugung, die haben wir Männer durch Jahrhunderte verinnerlicht – von ihnen müssen wir uns trennen. Und auch hier gilt: nicht die anderen sind schuld an meiner Haltung, nicht die Erziehung, nicht die Tradition sondern ich – wenn ich mich wider besseres Wissen nicht davon trenne. Gilt auch für die Kirche.

Für mich gibt es in der heutigen Lesung auch etwas Tröstliches: Gott  macht sich auf die Suche nach dem Menschen. Gott macht sich auf die Suche nach mir.

Egal was ist, egal was ich angestellt habe, was ich gesagt, was ich versäumt, was ich unterlassen habe – Gott macht sich auf die Suche nach mir.

Im Neuen Testament ist Jesus der Gute Hirt, der das verlorene Schaf sucht. Genau das kann mir helfen, den Teufelskreis der Schuld und der Schuldzuweisungen zu verlassen.

Predigt am 9.6.2024 in Dernau