„Adam, wo bist Du? Mensch, wo bist Du?“ (Gen 3,9) Das ist dieFrage, die der gegeißelte Heiland stellt. Normalerweise fragen wir umgekehrt: Gott, wo bist Du? Wie kannst Du das zulassen? Warum greifst Du nicht ein?
Seit dem Paradies muss Gott mit ansehen wie der Mensch, sein Geschöpf, die Freiheit missbraucht, die er von ihm erhalten
Mensch, wo bist Du – angesichts des Leids, in der Familie, an der Arbeit, in der Gemeinde, in unserem Land, auf dieser Erde?
Da gibt es viele Unschuldige, die wie Christus leiden müssen. Die Flüchtlinge, die Hungernden, die Gemobbten, die Ausgegrenzten, die schwarzen Schafe in unseren Familien – um nur einige zu nennen.
Merken Sie wie Sie in der Seele schon reflexartig reagieren? Was habe ich denn damit zu tun? Die anderen sind doch schuld. Manchmal haben die anderen auch Namen, manchmal sind es auch einfach nur die da oben. Aber so einfach geht es nicht wie die Geschichte aus dem 3.Kapitel des ersten Buchs der Bibel erzählt.
Drei Bilder aus diesem Gotteshaus können uns begleiten:
Das Schweisstuch der Veronika
Die Geschichte kommt in der Bibel nicht vor. Sie gehört zum Schatz des Volksglaubens. Veronika soll dem Herrn auf seinem Kreuzweg ein Tuch gereicht haben, damit er sich den blutigen Schweiss abwischen konnte. Das Antlitz Christi sei in dem Tuch zurückgeblieben, habe sich in den Stoff eingeprägt. Wundersam?
Nein – das gehört mit zu unseren Lebenserfahrungen: wenn wir einem Menschen beistehen, wenn wir sein Leid lindern, dann prägt sich sein Bild ein in unsere Seele. Wir gehen anders von ihm weg. Wieviele Bilder gibt es schon in unserer Seele? Wer in meiner Umgebung oder auch in der weiten Welt wartet darauf, dass er in meiner Seele Spuren hinterlässt?
Das Schweisstuch der Veronika kann uns davor bewahren, sich davon zu stehlen. Es gilt, am Kreuzweg des anderen zu bleiben. Mensch, wo bist du?
Der Richterstuhl
Der leere Richterstuhl, der in unseren Blick fällt, wenn wir diese Kirche betreten, macht uns bewusst: diese Frage „Mensch, wo bist du?“ ist existentieller als die Frage nach einer bloßen Ortsbestimmung. Sie wird uns einmal vor diesem Thron gestellt werden: Mensch, wo bist Du gewesen!
Was hast Du getan und was hast Du nicht getan?
Früher hat man den Menschen Angst gemacht mit diesen Gedanken.
Aber dieser Thron will uns nicht Angst machen. Er ist wie diese ganze Kirche eine Einladung. Wir sehen auf der Rückenlehne einen Ölzweig und ein Flammenschwert. Den Ölzweig des Friedens und das Flammenschwert der Gerechtigkeit. „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“, heißt es im Psalm 85 in einer messianischen Vision.
Der Richterstuhl mit diesen beiden Symbolen lädt uns ein, so zu leben, dass dies Wirklichkeit wird. Gerechtigkeit und Frieden – Ausdruck einer Sehnsucht, die wir alle tief in uns tragen. Gerechtigkeit und Frieden, darum geht es den Staatslenkern in Ellmau, darum geht es den friedlichen Demonstranten.
Gerechtigkeit und Frieden sind eigentlich paradiesische Zustände, die der Mensch verwirkt hat, weil er wie Gott sein wollte. Die der Mensch immer verwirkt, wenn er wie Gott sein will.
Und schließlich: wenn Sie gleich wieder hinausgehen; wenn Sie Ihre Gebete und Anliegen dem gegeißelten Heiland vorgetragen haben, dann sehen Sie beim Hinausgehen
Die verschlossene Himmelstür
Sie sagt Ihnen, Mensch, Du hast noch Zeit! Es wird der Moment kommen, da Chronos, der mythologische Herr über die Zeit mit seinem Stundenglas am Boden liegt und Deine Zeit abgelaufen ist. Dann gilt, was über der Tür steht: es wird keine Zeit mehr sein!
So schön dieser Ort auch ist, so zufrieden Sie auch sind, das Ziel erreicht zu haben. Das hier ist noch nicht der Himmel, allenfalls ein Abbild.
Deshalb nehmen Sie beim Hinausgehen Ihr Leben neu als Geschenk an. Es ist noch Zeit, sich nicht aus der Verantwortung zu stehlen, wenn wir dem Bösen, wenn wir dem Leid begegnen.
Unsere Welt lebt von den Menschen, die sich nicht verstecken, lebt von denen, die Gott nicht suchen muss. Hoffentlich gehören wir dazu.