Ich habe über zwei Stunden zugehört bei der Pressekonferenz der Rechtsanwälte, die das Gutachten über sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München erstellt haben. Am Schluss wurde Frau Dr. Westphal gefragt, ob es denn wenigstens eine Person gegeben hätte, die aktiv gegen das Vertuschen vorging, also den einen Gerechten? „Nein“, war die Antwort der Gutachter. „Auf vielen hundert Seiten fand sich nicht ein Gerechter“, resümiert ein Journalist. Das war der letzte Stein, der auf mich niederprasselte.
w.r.wagner/pixelio.de
Mein Gefühl war: ich sitze in einem Haus und mit jedem Satz, den die Juristen vorlesen fällt ein Stein aus seinen Mauern zu Boden. Ich bleibe sprachlos, nein wort-los. Was gibt es da noch zu sagen? Zu kommentieren?
Im Netz ist es das gleiche Bild: viele Kollegen ringen nach Worten. Nicht als ob ich und wir nicht vom Abgrund des Missbrauchs in unserer Kirche gewusst hätten, aber das er so tief ist, hätte ich mir kaum vorstellen können. Ich lade mir das Dokument herunter, 1893 Seiten, lese darin, forsche, ob, ich mich nicht an manchen Stellen verhört habe.
Ich lese das Dokument, dass die Unterschrift Benedikt XVI. trägt und in dem er argumentiert, dass ein Priester als „Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei, wobei es nicht zu Berührungen der Opfer gekommen sei, und dass er bei seinen Handlungen als „anonymer Privatmann“ gehandelt habe und nicht als Priester erkennbar gewesen sei und der Priester sich in der Seelsorge selbst und im Religionsunterricht nicht das Mindeste habe zuschulden kommen lassen. (S.703/704)“.
Dieser Satz enthält zerstörerische Sprengkraft. Da zerstört jemand sich selbst! Und ich wundere mich nicht mehr über mein Gefühl der herabfallenden Steine.
Ich möchte nur noch schweigen. „Das ist genau das Falsche. Geschwiegen, weggeschaut, tabuisiert wurde lange genug“, schreibt mir ein Freund als erste Reaktion. Aber ich kann nicht reden. Auf meinem Tisch liegt der Schrifttext für die Messe am Abend. Er schreit mich an: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde!“ ( 1 Petr 5,2-3) Nicht nur als Anklage, sondern auch als Frage an mich: „wo war ich in diesem Herrschaftssystem Täter, Opfer oder Ignorant? Was tue ich? Wo sensibilisiere ich mich? Wo lasse ich mich an- und hinterfragen?“ (so hatte es mir der Freund geschrieben).
Ich breche auf zur Zelebration. Es gibt keine Musik, keine Lieder, keine Predigt. Nur die Texte im Messbuch. An ihnen kann ich mich in meiner Sprachlosigkeit orientieren. Immer wieder schießt mir das Wort durch die Seele: „Auf vielen hundert Seiten fand sich nicht ein Gerechter“.
Im Netz lese ich immer mehr Zeugnisse von aufgewühlten Kollegen, einige kenne ich persönlich. Und es gibt immer wieder Versuche, Benedikt XVI. zum Opfer einer Verschwörungskampagne zu machen. Sie machen mich wütend: Nein, Benedikt XVI. war der Chef der Täterorganisation und in seiner Einstellung (siehe oben) selbst Täter.
Die Opfer, das waren Tausende von Kindern und Jugendlichen. Sie sind die Betroffenen. Wir haben sie übersehen und überhört. Ich erinnere mich an meine Predigt aus dem Jahr 2010: „Jetzt müssen wir ihnen zuhören, auch wenn jede einzelne Geschichte schmerzt. Jetzt verdienen sie unsere ganze Aufmerksamkeit, auch wenn jeder Fall uns neu erschüttert. Jetzt müssen wir uns ihrem Zorn stellen, weil sie jetzt mitbekommen, dass sie allein gelassen wurden, weil andere weggeschaut und vertuscht und die Täter nur versetzt haben.“ Das „Jetzt“ ist zwölf Jahre her und immer noch aktuell.
Viele sagen, es sei jetzt Zeit zu gehen und viele sind schon gegangen. Ich weiß, dass ich immer mit diesem System identifiziert werde; aber ich werde nicht gehen! Ich bleibe, weil ich von der Botschaft überzeugt bin, die ich jetzt fast 48 Jahre verkündigt habe. Ich bleibe, weil ich bei den Menschen bleiben will. Ich bleibe, weil ich mitbauen möchte an der Kirche, die ein Haus sein muss für alle.
Die alten Steine benötige ich nicht mehr. Die neuen müssen lebendige Steine sein – wie die Menschen, die ich bei lukas19 gefunden habe: Männer und Frauen, mit denen ich beten, singen, in der Schrift lesen und das Leben teilen kann. Sie werden auch in diesen Tagen meiner Seele gut tun.
Der Skandal in der Heiligen Nacht, in der Maria ihren Sohn gebar. Der Himmel öffnet sich und ein Engel verkündet die Frohe Botschaft. Aber die Adressaten sind Geächtete. Menschen, mit denen man in der feinen damaligen Gesellschaft nichts zu tun haben wollte. Da ist wohl etwas schief gelaufen in der himmlischen Dramaturgie.
Aber wer genauer hinschaut, der erkennt in diesen ersten Kapiteln des Lukas-Evangeliums, in denen auch die Weihnachtgeschichte steht, die Ouvertüre des Evangeliums, das Thema, das sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel zieht.
Die Hirten tauchen in den folgenden Kapiteln immer wieder auf: in der Gestalt der Besessenen und Kranken am See Genezareth, im Aussätzigen, der geheilt wird, dem Zöllner, der berufen wird, dem barmherzigen Samariter, dem Held einer Beispielerzählung, im Blinden am Wegesrand bei Jericho oder im Zöllner Zachäus, in dessen Haus Jesu einkehrt.
Nein, es ist kein Zufall, dass den Hirten die erste frohe Botschaft, das erste Evangelium verkündet wird. Sie sind die Helden der Geschichte. Tun wir das, was wir in einem Lied besingen: „Gehn wir mit ihnen“.
Drei Dinge können wir von ihnen sagen:
1.Sie brechen auf
„Als die Engel von den Hirten in den Himmel zurückgekehrt waren, sagten die Hirten zueinander:“
Sie sagten zueinander ! Die Hirten sind geeint in ihrer gemeinsamen Sorge um ihre Herden, sie sind geeint im gemeinsamen Gefühl, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Sie können nicht am Gottesdienst in der Synagoge teilnehmen und erscheinen deshalb vielen als suspekt.
Sie sind geeint in der gemeinsamen Erfahrung der Botschaft der Engel. Sie reflektieren nicht lange, gründen keinen Arbeitskreis, um das Erfahrene zu verarbeiten, keine Hirten-Konferenz, um sich über Maßnahmen zu verständigen – sie brechen auf: Lasst uns nach Betlehem gehen, um das Ereignis zu sehen, das uns der Herr kundgetan hat! Es gibt Situationen im Leben, da muss der Mensch handeln, um nicht Wesentliches zu verpassen. Vielleicht kennen Sie das auch aus ihrer Biografie: Stunden, in denen etwas getan werden musste.
Die Hirten brechen auf, nicht bedächtig und langsam, nein „sie eilen“, schreibt Lukas.
2.Sie finden das Kind
„Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt.“ – hatte der Engel gesagt. Gar nicht so einfach. Ich weiß nicht, wieviele Säuglinge es damals in Bethlehem gab. Aber ein Kind in Windeln gewickelt ist nichts Einmaliges. Ein verwechselbares Zeichen.
Trotzdem fanden sie „Maria und Josef und das Kind, das in der Krippe lag.“ Glück gehabt, möchte man sagen und gleichzeitig fragen, wie sollen wir ihn finden? Was ist das Zeichen, das uns gegeben wird?
„Was Ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüdern getan, das habt ihr mir getan“, wird Jesus später sagen. Ein deutlicher Hinweis darauf, wo er zu finden ist – im Menschen neben mir.
„Wenn ich über die Erde erhöht bin, werde ich alle zu mir ziehen.“ (Joh 12,32), sagt er an anderer Stelle. Auch dort am Kreuz ist Gott zu finden, in den Leidenden, in den Schwachen, bei denen, die leiden, bei denen, die sterben.
So langsam werden wir herausgerissen aus unserer Weihnachtsidylle und spüren hoffentlich, die alte Geschichte ist auch unsere Geschichte, wenn wir uns die Hirten zum Vorbild nehmen.
3.Sie loben Gott
Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war. – die Begegnung mit dem Kind hat sie verändert. Sie preisen Gott. Ihre Weide wird für sie zur Freiluft-Synagoge. Was ihnen sonst nicht möglich ist, praktizieren sie jetzt unter freiem Himmel: das gemeinsame Lob Gottes.
Wer Gott lobt, der glaubt, dass nicht alles auf dieser Erde selbstverständlich ist. Wer Gott lobt, der glaubt, dass nicht alles auf dieser Erde machbar ist. Wer Gott lobt, der glaubt, dass das Wesentliche geschenkt ist. Wer Gott lobt, der glaubt, dass Gott gegenwärtig ist in dieser Welt, im Kleinen, im Unscheinbaren wie in dem Kind in Windeln, und im Wunderbaren wie im offenen Himmel auf den Feldern Bethlehems.
Tun wir es den Hirten gleich: brechen wir auf, finden wir das Kind und loben wir Gott.
Als am 14.Juli dieses Jahres die Flutkatastrophe über das Ahrtal hereinbrach, stiegen die Wasser des kleinen Flusses mit irrsiniger Geschwindigkeit an. Gleichzeitig brach die elektrische Versorgung zusammen. Eine Nacht, tiefe Dunkelheit und Todesangst. Selbst als die Elektrizität zurückkehrte, blieb es in den Seelen vieler Menschen dort dunkel. Zu traumatisch sind die Erinnerungen.
Wir kennen ähnliche Stunden auch; obwohl um uns herum helles Licht leuchtet, gibt es Trauer und Leid, die unsere Seele dunkel lassen. Oder wenn wir ratlos sind, wenn wir nichts mehr verstehen, nichts mehr auf die Reihe kriegen. die Nacht der Zweifel, die Nacht der 1000 Fragen, auf die man keine Antwort kriegt.
In diese Nacht, die anscheinend nie zu Ende ist und an manchen Tagen noch dunkler empfunden wird, in diese Nacht hinein verkündet der Prophet Jesaja „Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf“! (Jes 9,1)
Ich möchte ihn fragen: Jesaja wo bleibt das Licht?
Wo bleibt das Licht für die Menschen, die wie Maria und Josef keine Bleibe haben; deren Häuser ganz oder teilweise zerstört sind, deren Hab und Gut davongeschwommen ist?
Wo bleibt das Licht in diesen Tagen der Pandemie? Die Nachrichten lassen nichts Gutes vermuten.
Wo bleibt das Licht in der Nacht meiner Einsamkeit nachdem ein lieber Mensch gestorben ist oder der Partner mich verlassen hat?
Jesaja, wo bleibt das Licht in der Dunkelheit des Lebens der Armen, Alten und Behinderten, der Flüchtlinge?
Es gibt so viel Streit und Unfrieden, Angst, Unsicherheit, Finsternis? Wo ist das Licht, Jesaja?
Das Licht ist für Jesaja ein Kind, das geboren wird – zu seiner Zeit wohl das Kind des Herrschers, das eine neue Zeit verheißt.
Uns wird ein anderes Zeichen geben: „Und das soll euch als Zeichen dienen: Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt, in einer Krippe liegt“, sagt der Engel den Hirten.
Ein Kind in Windeln!?– nein, wir brauchen einen Gott, der dreinschlägt. Einen Gott, der aufräumt. Einen Gott, der endlich die Nächte in den Seelen der Welt beendet. Wir wüssten schon, was richtig wäre.
Aber er ist kein Gott nach unserem Bild, nach unserer Vorstellung. Er kommt nicht mit Macht, Glanz, Herrlichkeit – so wie die Welt es sich vorstellt. Er kommt nicht um neuen Schrecken, neue Angst zu verbreiten. „Er ist gekommen wie das Kleinste der Wesen, das Zerbrechlichste, das Schwächste.“ (Paul VI.) Gott macht sich klein – das stellt alles auf den Kopf, was Menschen normalerweise mit Gott in Verbindung bringen.
Deshalb sind wir auf Zeichen angewiesen, die uns helfen zu erahnen, zu verstehen. Das Licht ist ein solches Zeichen. Wir wissen, dass das Licht einer Kerze einen Raum erhellen kann.
Das Licht ist ein Geschenk. Wir können zwar mit technischen Mittel die Nacht zum Tage machen. Aber Licht können wir aus eigener Kraft nicht schaffen! Ebenso wenig wie wir selbst eine heile Welt bauen oder einen neuen und vollkommenen Menschen züchten können.
Das Licht ist ein Geschenk. Wenn Gott es in uns anzündet, dann können wir es weitergeben, andere wärmen und ihren Weg erhellen
Das gehört durchaus auch zu unserer Erfahrung: es gibt nicht nur Dunkelheiten. Es gibt auch Augenblicke des Lichts: bereichernde Begegnungen, Momente der Nähe und Zuwendung, Versöhnung, Erbarmen, Heilung, Freundschaft, Liebe. Es gibt Stunden von Solidarität, Mitgefühl, Hilfe.
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Manchmal war es vielleicht nur ein kleines Licht, aber es war gerade hell genug, dass ich neuen Mut fassen konnte und es Schritt für Schritt weiterging.
Was hindert uns daran, diese Lichter in den Dunkelheiten unseres Lebens zu deuten als Zeichen von Gottes Liebe.
Das ist die Botschaft von Weihnachten: Gott möchte uns nicht im Dunkeln sitzenlassen.
Gott möchte uns nicht im Dunkeln sitzen lassen – wahrlich ein Grund, heute ein Fest zu feiern, ein Fest des Glaubens – aber nicht nur für uns, sondern auch für andere.
Und: indem wir Ernst machen mit dem Wort aus dem Epheserbrief: „Lebt als Kinder des Lichts! Das Licht bringt lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit hervor. (Eph 5,8)
Das ist die Weise, wie wir das Dunkel in unserer kleinen Welt besiegen können in der Hoffnung, dass es ausstrahlt auf die große Welt: durch Güte, Gutsein, durch Gerechtigkeit, Gerecht sein und durch Wahrheit, wahr sein!
Das, was uns fremd ist, macht uns das Leben oft schwer. Nur mühsam können wir uns mit dem anfreunden, was uns nicht geläufig und bekannt ist. Das können banale Dinge, aber erst recht fremde Menschen sein. Je nach Situation und Horizont macht das Ungewohnte, das Neue, das Fremde, der Fremde uns Angst.
Das muss auch Jesus erleben:
Die scheinbare Unordnung, die durch den Mann aus Nazareth entsteht, das Ungewohnte, ja das Fremde in seinen Worten und seinem Tun, lässt in den Schriftgelehrten, die extra von Jerusalem herbeigeeilt waren, nur noch eine einzige Wertung zu – sie verteufeln ihn im wahrsten Sinne des Wortes: Er ist von Beelzebul besessen!
In den Augen dieser Leute ist Jesus von Sinnen. Im ausgehenden Mittelalter hieß es schnell „Sie ist eine Hexe!“ – Damit war die Lösung naheliegend, die Gefahr muss vernichtet werden.
Auch die Verwandten Jesu sind nicht frei von solchen Gedanken. Sie wollen ihn, wie es im Evangelium heißt, „mit Gewalt“ zurückholen. Sie wollen den Sohn und Bruder wieder in ihre Lebenswelt zurückführen, dorthin, wo sie ihn leichter unter Kontrolle haben, wo sie ihn vielleicht dahin bringen können, sich ihren Lebensregeln anzupassen. Ein anderes Selbstverständnis gestehen sie ihm nicht zu. Ein Leben mit anderen Prioritäten, ein anderer Glaube, ein anderes Handeln kommt für sie nicht in Frage.
Jesus grenzt sich von diesem Denken klar ab. Er sagt nicht: weil du anders denkst, handelst, lebst, weil du anders glaubst, weil dein Bild von Gott anders ist, bist du unannehmbar, bist Du gar des Teufels.
Für Jesus ist das entscheidende Kriterium – dass der Mensch dem Willen Gottes entsprechend lebt. Allein dies setzt ihn in Beziehung zu ihm, macht ihn zum Bruder, Schwester, Mutter.
Nicht Abstammung, nicht Tradition, nicht irgendwelche leeren Rituale, nicht irgendeine gemeinsame Überzeugung führen zur Gemeinschaft mit ihm – allein die Bereitschaft, den Willen Gottes zu tun. Und das kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen.
Diese Diversität des menschlichen Lebens, die Vielfalt der Lebensentwürfe finden ihre Einheit in einem Leben nach dem Willen Gottes. Josef Ratzinger sagte als er noch nicht Papst war: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt.“ Von dieser Diversität ist in der Kirche heute nicht mehr viel zu spüren. Statt Vielfalt, statt Pluriformität erleben wir ein Streben nach Uniformität.
Als Kardinal Marx dem Papst seinen Rücktritt angeboten hat, schrieb er ihm „Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen „toten Punkt“. Ich weiß nicht, wie es Ihnen ergangen ist als Sie das am Freitag gehört oder gelesen haben: ich habe zuerst einmal die Luft angehalten. Diese Analyse ist so klar, so richtig und auch niederschmetternd.
Kardinal Marx zitiert mit diesem Wort einen Gedanken von Alfred Delp, den dieser in den 40erJahren des letzten Jahrhunderts geäußert hat. Damals schrieb Alfred Delp: „Was gegenwärtig die Kirche beunruhigt und bedrängt, ist der Mensch. Der Mensch außen, zu dem wir keinen Weg mehr haben und der uns nicht mehr glaubt. Und der Mensch innen, der sich selbst nicht glaubt, weil er zu wenig Liebe erlebt und gelebt hat.“
Ja, wir haben die Zugänge, die Wege zu den Menschen außen verloren. Sie stehen uns gleichgültig gegenüber; schlimmer noch: sie verlassen uns scharenweise. Das kann uns nicht egal sein – ich möchte nicht zum „heiligen Rest“ gehören nach dem Motto: Der Letzte macht das Licht aus!“ Ich möchte vor allen Dingen die Menschen nicht verlieren, denn ich glaube, wir haben eine Botschaft, die dem Menschen von heute gut tun kann.
Allerdings: durch den sexuellen Mißbrauch und den Machtmissbrauch in der Kirche haben die Menschen – wie es Kardinal Marx am Freitag in die Kameras sagte: – „Unheil“ statt „Heil“ erfahren. Die Menschen vertrauen uns nicht mehr und – wie es gestern ein Firmling formulierte – „die Kirche hat ein schlechtes Image“. Daran leiden viele!
Hinzu kommt: in allen deutschen Diözesen erleben wir zur Zeit Strukturreformen. Alle Einheiten werden größer gemacht und entfernen sich immer mehr von den Menschen. Ein Kleid, das zu eng geworden ist, kann man nicht immer weiter mit Flicken weiter machen – irgendwann verliert es die Form und wird unansehnlich.
Wir sind immer noch in vielen Dingen Priester- und Klerus-fixiert. Und weil wir zu wenige davon haben, müssen alle leiden: Laien wie Klerus.
Auch wenn es weh tut, weil wir so vieles gewohnt und nie anders gekannt haben – aber wir werden von manchen Dingen Abschied nehmen müssen. Tiefgreifende Veränderungsprozesse sind notwendig. Wir brauchen neue Aufbrüche, neue Anfänge. Das spüren viele von uns, während andere sich noch krampfhaft an das Vergangene klammern. Es würde den Rahmen dieses Textes sprengen, alles Notwendige aufzuzeigen.
Vielleicht sagen Sie jetzt: das klingt aber alles nicht sehr ermutigend. Da haben Sie Recht, wenn man am „toten Punkt“ ist, dann braucht man sehr viel Kraft, um nicht aufzugeben – und ich kenne viele, die aufgegeben haben.
Erinnern Sie sich an den letzten Satz des Evangeliums: „Wer den Willen Gottes tut, der ist für mich Bruder, Schwester und Mutter“.
Der Wille Gottes offenbart sich nicht allein dem Papst, dem Bischof oder Pfarrer. Der Wille Gottes offenbart sich jedem von uns. Überlassen Sie deshalb die Kirche, Ihre Gemeinde nicht den Amtsträgern, sondern legen Sie selbst Hand an, wo sie den Willen Gottes für sich und die Gemeinschaft erkannt haben. Die Zeit braven Herde ist vorbei, seien Sie kreativ, gestalten Sie mit – dann wird der tote Punkt vielleicht wirklich zu einem Wendepunkt.
Fronleichnam – zum 2.Mal ohne Prozession. Halten wir das jetzt einfach aus? Nächstes Jahr wird es wieder so sein wie vorher, trösten wir uns. Tomas Halik, tschechischer Priester und Theologe, der viele Beschränkungen kirchlichen Lebens erlebt hat, fragt mit Recht: „Was macht einen Christen zu einem Christen, wenn der traditionelle »kirchliche Betrieb« plötzlich aufhört zu funktionieren?“ Was bleibt uns dann an diesem Festtag ohne Prozession – nur das Warten auf bessere Zeiten? Oder liegt in dieser Beschränkung kirchlichen Lebens nicht auch ein Anruf Gottes?
Was geschieht da Fronleichnam? Wir tragen ein Stück Brot durch die Straße – wenigstens für die Augen der meisten Zuschauer? Für uns ist es die Eucharistie! Das wissen und glauben die Wenigsten, die uns sehen. Ihnen zeigen wir ein Stück Brot. Jemandem ein Stück Brot zeigen aber heißt letztlich, ihn einladen zum Essen, zum Brot teilen.
(c) Martha Gabauer/pfarrbriefservice
In unserer Sprache gibt es ein Wort, das ursprünglich bedeutete, das tägliche Brot miteinander teilen, das aber heute einen etwas anderen Beigeschmack bekommen hat: „Kumpan“.
Es kommt aus dem lateinischen „conpanis“ und meint denjenigen, der die gleichen Erfahrungen mit mir macht, die gleiche schwere Arbeit zu leisten hat, der mit mir so vieles teilt, was der Tag bringt. Auch im Französischen gibt es dieses Wort: „copain“.Es meint den Menschen, der sich aus allen anderen heraushebt und der mir in Freundschaft verbunden ist, einen Menschen, der mir viel bedeutet, der mir so notwendig ist, wie das tägliche Brot.
So gesehen sind wir alle „Kumpane Jesu“, einmal weil er dieses Brot mit uns teilt, und zum anderen, weil er selbst dieses Brot ist –das Geheimnis unseres Glaubens schlechthin, und wir ihn brauchen wie das tägliche Brot.
Wir alle sind also Kumpane Jesu –
Aber wir sind keine geschlossene Gesellschaft. Dies ist hier keine Veranstaltung nur für die Frommen. Wir sind allenfalls die, die der Einladung gefolgt sind, ein Bruchteil derjenigen, die alle eingeladen sind.
Auf Jesu Gästeliste stehen viel mehr, auch diejenigen, die sich vielleicht gar nicht vorstellen können, eingeladen zu sein, und von denen manche von uns sich nicht vorstellen können, dass sie dazu gehören: zum Beispiel die wiederverheiratenen Geschiedenen, die Homosexuellen, die Transgender-Menschen, viele, die uns inzwischen den Rücken zugekehrt haben.
Unser Papst will, dass wir ihnen diese Einladung überbringen: „Jesus zu folgen heißt: lernen, aus uns selbst herauszugehen, um den anderen entgegen zu gehen, um zu den Randgebieten des Daseins zu gehen“, so sagt er. „Lasst uns als erste zu unseren Brüdern und Schwestern gehen, besonders zu denen, die am weitesten weg sind, zu denen, die in Vergessenheit geraten sind, zu denen, die Verständnis, Trost und Hilfe brauchen. Es gibt ein sehr großes Bedürfnis, das lebendige Zeugnis des barmherzigen Jesus, der reich an Liebe ist, zu den Menschen zu bringen![1]
Er hat Recht, wenn er in seiner ersten Enzyklika schreibt: „Die Eucharistie ist […] nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein großzügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen“.[2]
Christus klopft an unsere Türe, sagt der Papst. Aber nicht um hereinzukommen, sondern dass wir ihn herauslassen und wir mit hinausgehen.
Als Kumpane Jesu wissen wir: nicht nur das Brot, auch Kommunikation und Gemeinschaft sind Lebens-mittel. – Wo sie gestört sind, müssen sie geheilt werden. Wo sie fehlen, müssen sie gestiftet werden. Wo sie tot sind, wieder belebt werden. Wo sie abgebrochen sind, müssen Brücken gebaut werden. In beschreiblicher und unbeschreiblicher Weise hat Jesus dies vorgelebt, hat sich selbst zum Lebensmittler und Lebensmittel gemacht und Communio gestiftet. Beschreiblich im Evangelium, unbeschreiblich in der Eucharistie.
Jammern wir nicht, dass wir Christus nicht in der Monstranz auf die Straße tragen können und schielen wir nicht auf Fronleichnam 2022. Jetzt ist die Zeit, jetzt ist die Stunde. Gehen wir selbst hinaus als Kumpane Jesu unter die Menschen.
Und das mit Liebe und mit der Zärtlichkeit Gottes, mit Achtung und mit Geduld, im Wissen, dass wir unsere Hände, unsere Füße, unser Herz zur Verfügung stellen, dann aber Gott es ist, der sie führt und der all unser Handeln fruchtbar macht.[3]
Vielleicht ist das der Anruf Gottes an diesem Tag! Wir haben genug zu tun!
Ein lachender Clown, geschminkt und in buntem Gewand, schaut in den Spiegel und erblickt sein Gegenbild: einen traurigen Clown. Egal, ob Clown, Pierrot oder Harlekin, das Lachen und das Weinen zeichnen den Narren aus. Wer eben noch Purzelbäume geschlagen hat, kann plötzlich ganz nachdenklich werden. Wer eben noch über das ganze Gesicht gelacht hat, dem fließen plötzlich die Tränen über die Wangen.
Die Narren stehen nicht im Mittelpunkt des Geschehen. Wie die Clowns treten sie zwischendurch auf, stolpern und fallen, machen ihre Bemerkungen und bringen die Menschen zum Lachen. Die Clowns sind nicht die Helden unter der Zirkuskuppel, nicht die begnadeten Artisten auf dem Hochseil oder Dompteure im Raubtierkäfig. Sie sind wie unsereiner. Deshalb gilt ihnen unsere Sympathie. Mit ihrem Lachen und ihrem Weinen erinnern sie uns an unsere Fähigkeiten, vor allem aber auch an unsere Schwächen.
Minsche wie mir dun kriesche un laache
Minsche wie mir sin nit jän allein
rötsch doch jet nöher wie Fründe dat maache
Minsche wie mir jo Minsche wie mir!
Ja, die Clowns sin Minsche wie mir!
Logisch denkende, auf ihre Klugheit bedachte Zeitgenossen haben es recht schwer mit dem Narren, denn ihnen wurde über Jahre und Jahrzehnte eingebleut, sich „ordentlich zu benehmen“ oder – noch schlimmer – sich „erwachsen zu benehmen“ und nur Dinge zu tun, deren Nutzeffekt deutlich erkennbar und kurzfristig realisierbar ist.
„Als Kind wird mir schon klargemacht. Du kriss Ärjer, wenn du widder zu laut lachs, den Sonntagsanzug dir versaus, in der Schule dich mit andern Jungs verhaus. Sei schön brav un still,man krich nicht immer alles, was man will.
Das Resumee in diesem Lied ist nichts anderes als die Sehnsucht nach dem Narren in uns, der Dinge tut, die sich der der Gesellschaft angepaßte Mensch nun einmal nicht erlaubt: Lust auf Leben –Lust auf Liebe – Lust auf Lust!, heißt es in dem Lied.
Lust auf Bratkartoffel und nen fetten Kuß Lust auf Leben – Lust auf Liebe –Lust auf Doll Lust mein Maul nicht zu halten, wen ich soll Lust auf dicke rote Grütze und auf jede kleine Pfütze Lust auf Leben- Lust auf Liebe- Lust auf Lust!
Man hört so richtig den schmatzenden Kuss und die vorlaute Rede, sieht den bekleckerten Mund und die spritzende Pfütze. Wer möchte da nicht dabei sein?
Der Spiegel vor’m Gesicht
Vor 500 Jahren entstand in Basel aus der Feder des Sebastian Brant eine satirische Schrift „Das Narrenschiff“. Der Autor benutzt die Figur des Narren, um den Menschen ihre Schwächen und Laster vor Augen zu halten, sie aufzurütteln, zur Selbstbesinnung zu bringen und zu bessern.
Nichts anderes ist die eigentliche Funktion der Büttenreden im Karneval. Hier können die kleinen Leute denen „da oben“ ungeschminkt und durch das Narrenkostüm die Wahrheit sagen und auch sich selbst den Spiegel vorhalten. Das mag erheiternd sein und manchmal nachdenklich machen.
Auch in unseren Karnevalsschlagern wird uns dieser Spiegel vorgehalten, ohne dass wir uns dessen immer so bewusst sind. Schauen wir auf zwei Karnevalslieder, die schon einige Jahrzehnte lang gesungen werden https://youtu.be/08Mv0uKgz2I : „Am Aschermittwoch ist alles vorbei, die Schwüre von Treue sie brechen entzwei, von all’ deinen Küssen darf ich nichts mehr wissen. Wie schön es auch sei, es ist alles vorbei!“ Und ein anderes: https://youtu.be/Vq2WRcmNahg „Du kannst nicht treu sein, neun, nein das kannst du nicht, wenn auch dein Mund mir wahre Liebe verspricht. In deinem Herzen hast du für viele Platz und darum bist du auch nicht für mich der richt’ge Schatz.“
Was da zuerst einmal nach Libertinage klingt, nach dem Motto „im Karneval ist alles erlaubt“ entpuppt sich bei näherem Hinsehen als sehr realistische Weltsicht: Ohne wahre Treue kann der Mensch nicht leben, das bestätigt jeder, der schon einmal die Untreue eines anderen erfahren hat. „Schwüre von Treue“ taugen nichts und auch der Kuss schmeckt nur, wenn er wirklich aus Liebe geschieht. Und noch etwas: die grosse Sehnsucht des Menschen ist es, nicht austauschbar zu sein. Wir wollen den Platz im Herzen eines Menschen nicht mit vielen teilen. Wer deshalb jedem die Treue verspricht, kann nicht wirklich lieben.
Nemm mich su wie ich ben, einfach su wie ich ben, ich weiss genau, dat ich Fehler hann, doch anders kann ich net sin, heißt eine neuere Version des gleichen Themas. https://youtu.be/ryxQ03a2WFU Wir wollen geliebt werden um unserer selbst willen, nicht wegen unseres Titels, unserer Rolle, unseres Geldes, unseres Aussehens – und das über den Aschermittwoch hinaus – so lesen wir es im Spiegel des Narren.
Die Welt braucht die Clowns, braucht die Narren, die uns immer wieder lehren: Die aufregenden Taten der Großen mögen zwar die große Welt verändern, aber unser Leben, unsere kleine Welt wird von anderen Quellen gespeist. So kann sich der Clown an der Blume erfreuen oder an der Seifenblase, die im Scheinwerferlicht glitzert:
Et sind die kleene Sache, wenn du an Kölle denks, die dir et Heimweh maache, wenn du en de Welt eröm hängst, singen die Bläck Föös. https://youtu.be/T3aowYSpzSI
Und sie erzählen von einer anderen Sehnsucht des Menschen, der Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat, die in kleinen Dingen erfahrbar wird.
Die Mächtigen, die sich oft einen Hofnarren hielten, der als Einziger am Hofe dem König die Wahrheit sagen durfte, ohne dafür geköpft zu werden, hatten trotzdem ein gespaltenes Verhältnis zur Narretei. Es war ihnen supekt und so verboten sie es nicht selten Auch die Kirchenoberen taten sich schwer damit, konnten mit dem offenen Wort der Narren nicht immer etwas anfangen. Als nach dem I. Weltkrieg der Karneval im Rheinland wieder auflebte, gab es sogar ein Hirtenwort des Kölner Erzbischofs, das alle Versuche im Keim ersticken sollte.
Die Ballade der Höhner über den Narren, erzählt sehr drastisch, wie man mit dem Narren umgeht, der die Kreise der Mächtigen und Wichtigen, der ach-so Sittsamen und Angepassten stört.
Sie haben versucht, ihn zu erzieh’n, ihn bedroht, geschlagen und angespien, Zerschlugen den Spiegel und sperrten ihn ein, sie dachten, jetzt würd endlich Ruhe sein., Sie schlossen die Augen und hörten nicht zu verlangten nach Ordnung, verlangten nach Ruh’.
Christus – der Narr
Roland Litzenburger
Als ich das Lied zum ersten Mal hörte, war meine erste Assoziation: ein Bild von Roland Litzenburger, das Christus als Narrenkönig zeigt. Christus – der Narr. Ein legitimer Vergleich?
Als die Verwandten Jesu ihn nach seinen ersten Predigten in die Familie nach Nazareth zurückholen wollten, sagten sie: „Er ist von Sinnen“. D.h. er ist außer sich, er ist verrückt.
Und so sollte es auch bleiben: So mancher Vergleich, mit denen er den führenden Gruppen der Gesellschaft die Leviten las, klingt durchaus komisch, zum Beispiel: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in den Himmel. Oder wenn er das heuchlerische Verhalten der Pharisäer kommentiert: Ihr siebt Mücken aus und verschluckt Kamele.
Eine solche Predigt schafft nicht nur Freunde; sie bringt vor allem diejenigen gegen den närrischen Propheten auf, die getroffen sind und nicht genügend Witz besitzen, um auch über sich selbst lachen zu können.
Vieles was der Jesus sagt, klingt verrückt: ob es die Feindesliebe ist, die grenzenlose Barmherzigkeit Gottes, auf die der Mensch angewiesen ist, die Notwendigkeit, in jedem Menschen ihn selbst zu erkennen, oder die Forderung zur unbedingten Nachfolge.
Paulus spricht von der „Torheit der Verkündigung“ (1 Kor 1,21) und sagt: „wir verkünden Christus, den Gekreuzigten, für die Heiden eine Torheit“, ( 1 Kor 1,23).
Verstehen wird dies nur, wer in eine Beziehung zu Christus tritt. So wie in der Ballade die, die den Narren wunderbar fand, Zugang zu seiner Botschaft hatte.https://youtu.be/mahHH1_WpmQ
Er schaute zum Himmel, sein Herz in der Hand, las in den Sternen, was keiner verstand. Sie konnte die Botschaft der Sterne versteh’n Sie nahm ihn ganz einfach so wie er war.
In dieser Beziehung erkennt sie: Dieser Narr wird zum Salz für Welt. Er macht die Welt genießbar, mit der ungeheuren Kraft wie wir sie in einer Prise Salz erleben.
Christus – der Narr. Der Vergleich scheint legitim. Der Narr, nicht der dumme August, der nicht ernst sein kann. Eher wie jener Clown von Sieger Köder, dessen Lächeln nicht verschwindet auch wenn er sich traurig im Spiegel sieht.
„Wir sind Narren um Christi willen“, sagt uns Paulus im ersten Korintherbrief (1 Kor 4,10). Wir sind eingeladen, den Narren in uns zu entdecken. In vielen unserer Anliegen, Sorgen und Ängsten stände uns das Lächeln der Kinder Gottes gut zu Gesicht, die wissen, dass allein die Sonne Schatten werfen kann. Wir sind eingeladen als „Clowns des lieben Gottes“, die Freiheit zu leben und das Salz dieser Welt zu sein – auch über den Aschermittwoch hinaus. Hier der ganze Songtext: Der Narr
Heute ist Martinsabend! In diesen Corona-Zeiten ohne die gewohnten Martinszüge. Trotzdem gilt es, des Heiligen zu gedenken. Dabei erinnere ich mich gerne an eine ungewöhnliche Martinsdarstellung. Sie begegnet uns in Rottenburg. Nicht von oben herab wendet sich der Soldat dem Bettler zu. Er ist vom hohen Ross herabgestiegen. Aug in Aug stehen sich die beiden gegenüber oder wie man heute sagt „auf Augenhöhe“. Das gemeinsame Fundament ist das Kreuz.
Martin zeigt sich barmherzig. Die Legende erzählt, dass Christus nachts imTraum dem Martin erscheint und ihm so deutlich macht, was das Schriftwort meint: „Was Ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.
„Barmherzigkeit“ bedeutet wörtlich: den anderen wie in einem Mutterschoß bergen. Das geht nicht von oben herab. Dafür muss man schon vom Pferd herabsteigen.
Aber geht es nur um „Barmherzigkeit“? Wird nicht durch das Handeln des Martins das „System“ bewahrt? Der Arme wird zwar vor dem Erfrieren gerettet; aber was ändert das an seiner Lebenssituation? Es gibt weiter den da oben auf dem Pferd und den da unten, der im Dreck sitzt.
Von Martin wird berichtet, dass das Erlebnis am Stadttor von Amiens, wo es lokalisiert wird, ihn existentiell verändert hat. Wir erleben zur Zeit eine Pandemie, die auch unser Leben durcheinander wirbelt – vielleicht mehr noch als die Begegnung Martins mit dem Bettler. In seiner jüngsten Enzyklika „Fratelli tutti“ stellt Papst Franziskus fest: „Die Zerbrechlichkeit der weltweiten Systeme angesichts der Pandemie hat gezeigt, dass nicht alles durch den freien Markt gelöst werden kann und dass – über die Rehabilitierung einer gesunden Politik hinaus, die nicht dem Diktat der Finanzwelt unterworfen ist – wir »die Menschenwürde wieder in den Mittelpunkt stellen müssen. Auf diesem Grundpfeiler müssen die sozialen Alternativen erbaut sein, die wir brauchen.«“(Fratelli Tutti Nr. 168) Schon 2014 hatte der Papst es konkretisiert: „... keine Familie ohne Wohnung, kein Bauer ohne Boden, kein Arbeiter ohne Rechte, kein Mensch ohne die Würde, die die Arbeit gibt.“
Mir wird bewusst: es geht in der Martinsgeschichte um mehr als um das Mantel-Teilen. Es reicht nicht mehr, nur vom Pferd herabzusteigen, handeln müssen wir. Papst Franziskus gibt uns Anregungen genug.
„Das II. Vatikanische Konzil hat den Katholiken die Bibel zurück gegeben.“, stellte Carlo Kardinal Martini in seinem letzten Interview fest. In der Tat: die Liturgiekonstitution des Konzils hat den Wert des Wortgottesdienst wieder entdeckt. Einmal als ersten Teil der Eucharistiefeier und zweitens als eigenständige Gottesdienstform.
In diesen Corona-Wochen, in denen das Volk Gottes auf die Feier der Eucharistie verzichten musste, erhielt der Wortgottesdienst für viele eine neue Bedeutung. Da immer noch viele der Eucharistie fernbleiben, weil sie entweder zur sogenannten Risiko-Gruppe gehören bzw. weil sie sich in den Messen unter Corona-Bedingungen nicht wohlfühlen, bleibt der Wortgottesdienst wohl noch auf längere Zeit eine willkommene Alternative – ohne dass dadurch die Feier der Messe als „Quelle und Höhepunkt des ganzen christlichen Lebens“ (LG 11)in Abrede gestellt wird.
Rainer Sturm/pixelio.de
Beim hl. Hieronymus lesen wir: „Wir lesen die Heiligen Schriften. Ich denke, dass das Evangelium der Leib Christi ist; ich denke, dass die Heiligen Schriften seine Lehre sind“ und Papst Benedikt XVI. folgert konsequent „Christus, der unter den Gestalten von Brot und Wein wirklich gegenwärtig ist, ist in analoger Weise auch in dem Wort gegenwärtig, das in der Liturgie verkündigt wird.“ (DV 56) Der „Sakramentalität des Wortes“ (DV 56) entspricht das Bild des II.Vatikanischen Konzils, das vom „Tisch des Gotteswortes“ spricht (SC 51).
In der Schrift lesen und sie betrachten – das kann ich alleine. Soll es aber ein Gottesdienst sein, braucht es eine Gemeinschaft, eine Community – wie es neudeutsch heißt, braucht es „zwei oder drei, die in Jesu Namen versammelt sind“. In Corona-Zeiten am ehesten digital, damit der Abstand gewahrt wird und man trotzdem beieinander ist.
Aber diese Wochen haben nicht nur solche „neuen“ Gemeinschaften gefördert, die sich digital gefunden haben, sondern auch noch etwas anderes zu Tage gebracht: Es bedarf für die Auslegung des Wortes Gottes nicht des Priesters, sondern das Volk Gottes ist durch Taufe und Firmung befähigt, die gemeinsame Kost vom Tisch des Wortes sich gegenseitig zum Geschenk werden zu lassen.
Ich bin jeden Sonntag reich beschenkt und immer wieder überrascht, wie die Teilnehmer*innen unseres Zoom-Gottesdienstes bei „lukas19“ die Schriftstelle hören und sich gegenseitig erschließen. Da ist der Theologe einer unter vielen, der oft staunend zuhört, wie andere das Wort Gottes für sich deuten. Der „Tisch des Wortes“ ist jeden Sonntag reich gedeckt! Das gibt Kraft für die nächste Woche.
Die „aktive Teilnahme“ am Gottesdienst beschränkt sich bei diesem Format nicht wie gewohnt nur auf die Antworten in der Liturgie, auf das Singen der Lieder, auf das Hören der Schrift und einer Predigt, auf den Austausch des Friedensgrußes, sondern alle sind beteiligt, wenn zu Beginn jeder und jede etwas von sich erzählt, sich an der Schriftauslegung beteiligt und auch die Anliegen für die Fürbitten zusammenträgt.
Ich bin gewiss, die Teilnehmer*innen werden sich in Zukunft nicht mehr mit der mehr oder weniger passiven „aktiven Teilnahme“ zufriedengeben. Corona hat auch hier etwas zum Vorschein gebracht. Wir dürfen es nicht wieder verschütten.
In diesen Tagen begehe ich den Jahrestag meiner Priesterweihe. In Corona-Zeiten ganz anders. Dieses Mal ganz alleine. Zeit, um sich der Frage zu stellen, was ist heute anders. Anders – nicht im Vergleich zu 1974, anders im Vergleich zu der Zeit vor Corona.
Es hat sich seit 1974 viel verändert. Aus der Kirche des Aufbruchs ist eine Kirche des Rückzugs geworden. Aber im Vergleich zu den 46 vergangenen Jahren sind die letzten Monate doch in meiner Wahrnehmung viel einschneidender gewesen. Nicht nur in der Fleischindustrie deckt die Pandemie Vieles auf.
In meinem Weihnachtsbrief 2019 habe ich noch beklagt, dass mir die Zelebration mangels Gelegenheiten fehlt. Jetzt musste ich 3 Monate darauf verzichten und es fiel mir nicht schwer (bin ich jetzt ein schlechter Priester?). Ich habe schnell gelernt wie ich mich (ich gehöre mit 70 und Übergewicht zur Risikogruppe) und die anderen schützen kann und muss.
Über die Problematik der vielen gestreamten Gottesdienste in den Wochen des Lockdowns ist schon viel Richtiges geschrieben worden. Manchmal hatte ich den Eindruck, als seien die Priester die „Herren“ über die Eucharistie (siehe auch 2 Kor 1,24), kaschiert mit dem Gedanken der Stellvertretung. Das, was dem Volk Gottes nicht möglich war, konnten sie praktizieren. Irgendwo blitzt in meinem Hinterkopf das Wort „Macht“ auf.
Während einer Ferienvertretung habe ich jetzt wieder zelebriert – das gehört zu meinem Dienst. Wer aber meint, dass ich innere Luftsprünge gemacht habe, irrt sich leider. Ich empfand die Zelebration als anstrengend – immer musste man Hygiene-Konzept und Regeln im Hinterkopf haben. Gesungen wurde nicht bis auf zwei ganz kleine Ausnahmen (Halleluja und Sanctus). In Ermangelung eines Kirchenmusikers musste ich zwischendurch auch noch das Handy steuern, um etwas Musik einzuspielen.
Es war Gottesdienst mit „gebremstem Schaum“ – man sah es den Menschen, die überall auf Abstand saßen, an, dass sie gerne mehr gesungen hätten – wenn da nicht die gefährlichen Aerosole wären. Das Gefühl von Gemeinschaft kam nicht auf. Man saß weit entfernt voneinander und vermied aus guten Grünen jeden näheren Kontakt. Für mich ist in der Messe immer die Interaktion wichtig oder – wie es im Studium nach dem II.Vatikanum immer wieder hieß – die „participatio actuosa“, die tätige Mitwirkung des Volkes Gottes.
Ich möchte die Stimmung der Menschen erleben und aufgreifen. Ihre Freude und ihre Trauer müssen sich auch in meiner Zelebration widerspiegeln. Nichts von alledem war zu erleben, weil es kaum eine Interaktion gibt – die liturgischen Bücher mit den paar Antworten genügen! Und das wird wohl noch einige Zeit so andauern – wenigstens für jene, die achtsam und sorgsam sind angesichts des unsichtbaren und immer noch gefährlichen Virus. Will uns Gott damit etwas sagen?
Das Wort des Herrn „Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid“ heißt heute „Kommt alle zu mir, meldet Euch an, registriert Euch, hinterlasst Namen und Telefonnummer“ und dann tretet ein, wenn noch Platz für Euch ist“. Weil nicht mehr so viele Menschen in die Kirchen passen, wird die Zahl der Messen mancherorts vervielfacht und man wundert sich, dass gar nicht so viele kommen. Und dabei wurde doch die Entpflichtung vom Sonntagsgebot wieder aufgehoben – aber wen interessiert das? – sowohl beim ersten Schritt, als auch beim zweiten. Die Menschen haben längst mit den Füßen abgestimmt und die Einhaltung des Sonntagsgebotes in Eigenregie übernommen. Wen hat es interessiert? Corona bringt es an den Tag. Und wen interessiert es? Will uns Gott damit etwas sagen?
Wir klagen über den Relevanzverlust der Kirchen. Wir waren in der Krise nicht systemerhaltend; sogar die Bundeskanzlerin hat die Kirchen in ihrer Ansprache nicht erwähnt. Da haben sich manche strammen Katholiken (weniger die *innen) ereifert und verwiesen auf die Caritas, die kirchlichen Schulen, die Krankenhaus-Seelsorge usw. Aber wird das überhaupt noch als kirchliches Handeln identifiziert? „Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten“, heißt es von der Ur-Kirche in der Apostelgeschichte (Apg 2,47) als sie noch weit davon entfernt war, systemrelevant zu sein. Weshalb hat Gott das eingestellt – schon vor Corona?
Nun bin ich nicht mehr im Dienst und die Kolleginnen und Kollegen vor Ort werden gewiss viele Beispiele anführen, wie und wo Kirche in den letzten Wochen präsent war. Manche hatten sogar mehr zu tun als sonst (geht das überhaupt?). Da wir keine Hygiene-Fachleute sind, mussten sich alle Dinge aneignen, die ihnen mehr als fremd waren. Aber besonders die Priester haben mit ihrer Priesterweihe alle Fähigkeiten erhalten – auch wenn sie bisweilen verschüttet sind, weil nicht gebraucht (siehe das Aufstellen von Hygienekonzepten). Sie müssen halt eben alles sein und können – Verwaltungsfachleute und Finanzmanager, Experten für Krankenhaus-Management, für Personalführung u.v.a.m.
Im Bistum Trier hat der Bischof jetzt einen römischen Schuss vor den Bug bekommen, weil er die Verantwortung auf mehrere Schultern verteilen wollte. Der Priester muss der Allzuständige und Letztverantwortliche sein – und damit festigt man nicht nur seine Macht, sondern auch die seines Bischofs, dem er im Gehorsam verpflichtet ist.
Überhaupt die Macht und ihr Erhalt – sie treibt seltsame Blüten. – Auch an ganz unscheinbaren Pflänzchen. Da geht das Bild eines Pfarrers durch die Presse, der am Karsamstag die Speisen segnet, die in einem Autocorso an ihm vorbeigefahren werden. Welche eine Kreativität! Weil die Weihwasserbecken in den Kirche leerblieben sind, gab es mancherorts kleine Fläschchen mit geweihtem Wasser oder Weihwasser im Erfrischungstuch-Format. Ich frage mich, warum hat man nicht die Getauften und Gefirmten angeleitet, selbst einen Segen über die Speisen oder über das Wasser zu sprechen? Ich weiß, wir können nicht leichtfertig die Macht – und wenn es nur die Macht über den Segen Gottes ist – aus der Hand geben. – Will uns Gott damit etwas sagen?
Ich merke, ich stelle viele Fragen – eigentlich ist es immer die Gleiche – und ich habe keine Antwort. Wo wird in der Kirche um die Antwort gerungen? Wo gibt es das Gespräch darüber? Gerne auch digital. Stattdessen hören wir auch nach den jüngsten Kirchenaustrittszahlen immer wieder die gleichen wortreichen Beteuerungen, die wir schon seit Jahren kennen ohne dass ihnen Taten gefolgt wären.
Eines weiß ich nur, es gibt kein zurück in die Vor-Corona-Zeit. Es wird eine neue Normalität geben müssen. Das II.Vatikanum sprach von den „Zeichen der Zeit“, die wir im Lichte des Evangeliums deuten müssen. Wenn die „Corona-Krise“ kein „Zeichen der Zeit“ ist, dann weiß ich nicht, auf welche Zeichen wir dann achten müssen.
Ich sprach eingangs von der Zelebration, die ich vermisste. Jetzt muss ich sagen: ja, ich vermisse sie weiterhin – aber nicht die unter Corona-Bedingungen. Ich werde noch eine Zeit ohne auskommen müssen und erfreue mich stattdessen an der lukas19-Community, die sich im Shutdown gründete und sehr beharrlich besteht. Es ist mir jeden Sonntag eine Freude, zu erleben, wie Menschen miteinander das Wort lesen und auslegen – der Tisch des Wortes ist reichhaltig gedeckt. Das genügt. Will mir Gott damit auch etwas sagen?
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