Es ist schon ein seltsam anmutendes Bild, das man jeden Tag an der Klagemauer in Jerusalem beobachten kann: junge und alte Männer, Soldaten und Zivilisten schnüren sich Lederriemen mit kleinen schwarzen Kapseln auf die Arme, binden sie sich um den Kopf. Fromme Juden, Männer und Frauen, berühren ehrfürchtig eine kleine Kapsel am Türpfosten, wenn sie ein Haus oder ein Zimmer im Hotel betreten.
In den Kapseln auf einem Zettel aufgeschrieben das Gebot aus dem alttestamentlichen Buch Deuteronomium:
„Höre Israel! Jahwe unser Gott ist der einzige Jahwe! Du sollst Jahwe, deinen Gott lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft! Und diese Worte, die ich dir heute anbefehle, sollen in deinem Herzen bleiben!“
Es ist nicht irgendein Gebot, es ist das wichtigste Gebot schlechthin – deshalb gilt es, sich immer wieder daran zu erinnern. Es ragt aus den 613 Vorschriften, die das jüdische Leben regelten, heraus! Es leitet sie ein, mehr noch: es ist ihre Begründung..
Das „Schema Israel- Höre Israel“, das Bekenntnis zu Jahwe als dem einzigen und wahren Gott wird von jedem frommen Juden an jedem Tag gesprochen und es ist das Gebet seiner Todesstunde
Es entspringt einer Erfahrung, die das Volk Israel mit Gott gemacht hat, einer „guten Erfahrung“.
• Er hat sie aus dem Sklavenhaus Ägyptens befreit,
• ist auf dem langen Marsch durch die Wüste vor und mit ihnen gewesen
• er hat sie aus lebensbedrohenden Situationen errettet.
Immer dann – so hatten es die Menschen erlebt – wenn sie sich Gottes Geboten unterworfen hatten, waren sie voran gekommen. Wenn sie jedoch menschlichen Anweisungen gefolgt waren, wenn der Mensch die Regie übernommen hatten, führte der Weg ins Chaos.
Aber selbst dann noch, wenn die Situation aussichtslos und verfahren erschienen war, hatte Gott sein Volk nicht im Stich gelassen und es schließlich an die Schwelle des gelobten Landes geführt.
Dies ist die Stunde, in der Mose diese Worte spricht.
Das Volk Israel hat erfahren:
• Gott ist mehr als die anfangslose Ursache der Welt!
• Gott ist mehr als die namenlose Ordnung des Kosmos.
• Gott hat einen Namen und auch ein „Gesicht“!
Wer solch gute Erfahrungen mit Gott gemacht hat, für den ist die Treue, die Loyalität, der Gehorsam gegenüber diesem Gott nichts Aufgezwungenes, sondern nur eine Konsequenz.
Die Liebe, die das Gebot fordert, ist zuerst einmal in diesem Sinne zu verstehen: als Haltung gegenüber einem treuen, fairen Bündnispartner.
So jedenfalls lesen wir das Wort „Liebe“ auch in außerbiblischen, orientalischen Vasallenverträgen. Aber im biblischen Zusammenhang geht es wohl doch nicht nur um die Vasallentreue, sondern um eine Beziehung zwischen Gott und seinem Volk und umgekehrt: der ganze Mensch ist hineingenommen in dieses Verhältnis. Es darf nicht nur ein Teil seines Lebens neben vielen anderen sein. Die liebende Beziehung zu Gott will den Menschen durchdringen in allem, was er denkt, was er sagt, was er tut.
Martin Luther sagt: „Woran Du Dein Herz hängst, worauf Du dich verlässt, das eigentlich dein Gott!“
Da der Mensch vergeßlich ist, erhält er die Anweisung dieses Schema Israel, dieses Bekenntnis zu seinem Gott nicht nur in sein Herz zu schreiben, sondern auch in einer Kapsel um das Handgelenk zu tragen und auf die Stirn zu binden, damit er nur nicht vergesse, worauf sein Leben gegründet ist.
Im heutigen Evangelium zitiert Jesu den Text aus dem Buch Deuteronomium. Ein Schriftgelehrter hatte ihn nach dem wichtigsten Gebot gefragt. Eine Frage, die die Gelehrtenschulen damals schon bewegte und zu verschiedenen Antworten kommen ließ.
Die Stellungnahme Jesus ist eindeutig: er verknüpft das Gebot der Gottesliebe mit dem Gebot der Nächstenliebe. Doch er tut dies nicht nur aus eigener Souveränität. Diese Verbindung ist bereits im alttestamentlichen Buch Leviticus vorgegeben.
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Ich bin der Herr“, heißt es dort. Auch die Nächstenliebe gründet also in den guten Erfahrungen der Menschen mit Gott.
• Weil er sich als der befreiende Gott erwiesen hat,
• als der, der den Menschen zugewandt ist,
• der das Leben und nicht den Tod will,
erwartet er von den Menschen eben diese Zuneigung zum Menschen neben ihm, zum Nächsten.
Aber es kommt noch etwas hinzu: die Nächstenliebe wird verknüpft mit der Selbstliebe. „Wie dich selbst“ – damit macht Jesus die Selbstliebe zum Maßstab der Nächstenliebe.
Der Dichter Hermann Hesse war besonders beeindruckt von diesem zweiten Teil: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Er hält es für das weiseste Wort, das je gesprochen wurde; denn es bringt das Wesen aller Lebenskunst und Glückslehre auf die kürzeste Formel. Die Begründung ist einsichtig.
Wer den Nächsten weniger liebt als sich selbst, wird zum Egoisten, der zwar Geld und Macht haben mag, der aber kein frohes Herz hat und dem die feinsten Freuden verschlossen bleiben.
Wer dagegen den Nächsten mehr liebt als sich selbst, ist ein armer Teufel, voll von Minderwertigkeitsgefühlen und lebt in einer Hölle, die man sich täglich selber heizt.
Dagegen sei die Liebe zu sich selbst, die keinem etwas schuldig bleibt, eine Liebe, die auch dem eigenem Ich gerecht wird. Hesse bringt es auf die Formel: „Liebe den Nächsten, denn er ist du selbst!“
Wie ich mich sehe und mit mir umgehe, so werde ich auch den anderen sehen und mit ihm umgehen. Menschliche Alltagserfahrungen bestätigen das. Ein Mensch, der sich selbst nicht mag, wie kann der andere mögen! Meister Eckhart, der große Mystiker des Mittelalters, drückt diese Erfahrung positiv aus: „Hast du dich lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, hast du dich selbst nicht wahrhaft lieb gewonnen.“
Ich glaube, dieser letzte Halbsatz „wie dich selbst“ ist der Schwierigste für uns alle: fallen uns doch all die Schatten, Fehler, Unzuglänglichkeiten ein, die wir an uns selbst gar nicht so sehr mögen.
Erinnern wir uns doch an unsere Fehler, die uns die Gesellschaft, die Umwelt, die Erziehung gerne einredet.
Mich selbst lieben, kann ich nur, wenn ich weiß, dass ich unfertig bin und unfertig bleibe – weil ich ein Geschaffener bin und der Schöpfer selbst damit keine Probleme hat.
Nicht nur Gottes- und Nächstenliebe gründen in den guten Erfahrungen mit Gott. Auch die Selbstliebe hat darin ihren Grund: ich kann mich selbst lieben, weil ich bereits von Gott geliebt bin.