Ich habe über zwei Stunden zugehört bei der Pressekonferenz der Rechtsanwälte, die das Gutachten über sexuellen Missbrauch in der Erzdiözese München erstellt haben. Am Schluss wurde Frau Dr. Westphal gefragt, ob es denn wenigstens eine Person gegeben hätte, die aktiv gegen das Vertuschen vorging, also den einen Gerechten? „Nein“, war die Antwort der Gutachter. „Auf vielen hundert Seiten fand sich nicht ein Gerechter“, resümiert ein Journalist. Das war der letzte Stein, der auf mich niederprasselte.
Mein Gefühl war: ich sitze in einem Haus und mit jedem Satz, den die Juristen vorlesen fällt ein Stein aus seinen Mauern zu Boden. Ich bleibe sprachlos, nein wort-los. Was gibt es da noch zu sagen? Zu kommentieren?
Im Netz ist es das gleiche Bild: viele Kollegen ringen nach Worten. Nicht als ob ich und wir nicht vom Abgrund des Missbrauchs in unserer Kirche gewusst hätten, aber das er so tief ist, hätte ich mir kaum vorstellen können. Ich lade mir das Dokument herunter, 1893 Seiten, lese darin, forsche, ob, ich mich nicht an manchen Stellen verhört habe.
Ich lese das Dokument, dass die Unterschrift Benedikt XVI. trägt und in dem er argumentiert, dass ein Priester als „Exhibitionist und nicht als Missbrauchstäter im eigentlichen Sinn aufgefallen sei, wobei es nicht zu Berührungen der Opfer gekommen sei, und dass er bei seinen Handlungen als „anonymer Privatmann“ gehandelt habe und nicht als Priester erkennbar gewesen sei und der Priester sich in der Seelsorge selbst und im Religionsunterricht nicht das Mindeste habe zuschulden kommen lassen. (S.703/704)“.
Dieser Satz enthält zerstörerische Sprengkraft. Da zerstört jemand sich selbst! Und ich wundere mich nicht mehr über mein Gefühl der herabfallenden Steine.
Ich möchte nur noch schweigen. „Das ist genau das Falsche. Geschwiegen, weggeschaut, tabuisiert wurde lange genug“, schreibt mir ein Freund als erste Reaktion. Aber ich kann nicht reden. Auf meinem Tisch liegt der Schrifttext für die Messe am Abend. Er schreit mich an: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig, wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde!“ ( 1 Petr 5,2-3) Nicht nur als Anklage, sondern auch als Frage an mich: „wo war ich in diesem Herrschaftssystem Täter, Opfer oder Ignorant? Was tue ich? Wo sensibilisiere ich mich? Wo lasse ich mich an- und hinterfragen?“ (so hatte es mir der Freund geschrieben).
Ich breche auf zur Zelebration. Es gibt keine Musik, keine Lieder, keine Predigt. Nur die Texte im Messbuch. An ihnen kann ich mich in meiner Sprachlosigkeit orientieren. Immer wieder schießt mir das Wort durch die Seele: „Auf vielen hundert Seiten fand sich nicht ein Gerechter“.
Im Netz lese ich immer mehr Zeugnisse von aufgewühlten Kollegen, einige kenne ich persönlich. Und es gibt immer wieder Versuche, Benedikt XVI. zum Opfer einer Verschwörungskampagne zu machen. Sie machen mich wütend: Nein, Benedikt XVI. war der Chef der Täterorganisation und in seiner Einstellung (siehe oben) selbst Täter.
Die Opfer, das waren Tausende von Kindern und Jugendlichen. Sie sind die Betroffenen. Wir haben sie übersehen und überhört. Ich erinnere mich an meine Predigt aus dem Jahr 2010: „Jetzt müssen wir ihnen zuhören, auch wenn jede einzelne Geschichte schmerzt. Jetzt verdienen sie unsere ganze Aufmerksamkeit, auch wenn jeder Fall uns neu erschüttert. Jetzt müssen wir uns ihrem Zorn stellen, weil sie jetzt mitbekommen, dass sie allein gelassen wurden, weil andere weggeschaut und vertuscht und die Täter nur versetzt haben.“ Das „Jetzt“ ist zwölf Jahre her und immer noch aktuell.
Viele sagen, es sei jetzt Zeit zu gehen und viele sind schon gegangen. Ich weiß, dass ich immer mit diesem System identifiziert werde; aber ich werde nicht gehen! Ich bleibe, weil ich von der Botschaft überzeugt bin, die ich jetzt fast 48 Jahre verkündigt habe. Ich bleibe, weil ich bei den Menschen bleiben will. Ich bleibe, weil ich mitbauen möchte an der Kirche, die ein Haus sein muss für alle.
Die alten Steine benötige ich nicht mehr. Die neuen müssen lebendige Steine sein – wie die Menschen, die ich bei lukas19 gefunden habe: Männer und Frauen, mit denen ich beten, singen, in der Schrift lesen und das Leben teilen kann. Sie werden auch in diesen Tagen meiner Seele gut tun.