Die neun Aussätzigen in uns

Zehn wurden geheilt – nur einer kehrt dankbar zurück.
Die Geschichte vom dankbaren Samariter zeigt, wie leicht wir das Wesentliche übersehen – und wie heilsam ein einfaches „Danke“ sein kann.


Illustration: Heilung der zehn Aussätzigen – Echternacher Kodex, 11. Jh.

Regen Sie sich auch gerade innerlich auf über die neun undankbaren Geheilten?
Eine interessante Geschichte, die Lukas da erzählt – und tatsächlich: sie erzählt etwas von uns selbst.
Schauen wir ein wenig näher hin.

Jesus ist auf dem Weg nach Jerusalem. Der direkte Weg von Galiläa führte über Samarien oder wenigstens, wie in dieser Geschichte, an der Grenze entlang.
In Samarien lebten die Samariter, die bei den Juden als Ketzer galten. Sie anerkannten nur die fünf Bücher Mose und verehrten Gott nicht im Tempel von Jerusalem, sondern auf dem Berg Garizim.
Sie und ihr Land wurden von frommen Juden verachtet.
Heute liegt dieses Gebiet im Westjordanland – Sie kennen es aus den Nachrichten.

Dort begegnet Jesus zehn Aussätzigen.
Aussätzig sein heißt: draußen sein. Man darf sich nicht mehr in den Dörfern aufhalten, haust in Hütten, Höhlen, Zelten – und muss laut rufen, wenn man anderen begegnet, damit sich nur ja niemand ansteckt.
Aussatz macht einsam.
Schlimmer noch: Wer aussätzig ist, gehört nicht mehr zum Volk Gottes, nicht mehr zur Gemeinschaft.

Die zehn bleiben in der Ferne stehen.
„Meister, hab Erbarmen mit uns!“ rufen sie ihm entgegen.
„Meister, ἐλέησον (eleison)“ – dasselbe Wort, das wir zu Beginn dieses Gottesdienstes gesungen haben: Kyrie eleison.

Jesus weiß, was Sache ist. Er bleibt auf Distanz, aber schickt sie zu den Priestern – sie müssen wie Beamte bestätigen, was inzwischen geschehen ist:
Die Aussätzigen waren rein geworden.
Das Urteil der Priester nimmt sie wieder in die Gemeinschaft auf – sie sind doppelt geheilt: körperlich und seelisch.
So wie die Krankheit ihr Leben völlig auf den Kopf gestellt hatte, so ist auch die Heilung eine existenzielle Wende.

Einer von ihnen kehrt zurück. Und die anderen neun?
Lukas sagt nichts über ihre Gründe. Also lassen wir einmal unserer Phantasie freien Lauf.

Ich bin überzeugt: Auch ihre Freude kannte keine Grenzen.

Aber umkehren und danken – das war nicht angesagt. Vielleicht morgen.
Einer trommelt sofort seine Freunde zusammen und feiert mit ihnen seine Heilung – mit reichlich Wein.
Ein Zweiter eilt zu seiner Frau und seinen Kindern – endlich kann er sie wieder umarmen.
Der Dritte widmet sich seinen Geschäften, die es bitter nötig haben.
Ein Vierter hat Angst, allein zurückzugehen, und überlegt hin und her.
Der Fünfte möchte sich bedanken, weiß aber nicht wie – ihm fehlt das richtige Geschenk.
Der Sechste kommt nach Hause und findet es von anderen bewohnt – das muss er erst klären.
Der Siebte will an seine Krankheit gar nicht mehr erinnert werden – er verdrängt alles.
Der Achte erfährt, dass seine Freundin ihn verlassen hat – er macht Jesus und seine Krankheit dafür verantwortlich.
Und der Neunte? Der befürchtet, Jesus könnte von ihm verlangen, ihm nachzufolgen.

Jeder hatte seine Gründe. Jeder ganz menschlich.
Und doch – keiner kehrt um.
Alle denken: Auf einen einzigen wird es doch nicht ankommen.

Ich muss gestehen: Ich erkenne mich in dem einen oder anderen wieder.
Die Ausreden kommen mir bekannt vor. Ihnen auch?
Da sind es die Freunde, die Familie, die Beziehung, der Besitz, die Angst vor Konsequenzen, die traumatischen Erlebnisse, und was man sonst noch als Gründe anführt.
Es sind die neun Aussätzigen in uns.

Jesus selbst bringt es am Ende auf den Punkt:
„Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden?“
Es geht also nicht nur um Dankbarkeit.
Es geht darum, zu erkennen, dass Gott am Werk war – und dass Leben, Heilung, Neubeginn ein Geschenk sind.

Der Samariter, der Fremde, der Ketzer, hat es erkannt.
Er lobte Gott mit lauter Stimme.
Er sieht in seiner Heilung mehr als nur die Wiederherstellung seiner Gesundheit – er erkennt das Wirken Gottes.

Wenn aber Gott selbst am Werk ist, dann werden alle scheinbar guten Ausreden plötzlich banal und hinfällig.

Dieser Text lädt mich ein, genauer hinzuschauen:
Wo ist Gott am Werk – in meinem Leben, in meinen Gesprächen, in meinen Begegnungen, in dem, was mir widerfährt?
Und dann nur das eine zu tun, was Meister Eckhart, der große Mystiker des Mittelalters, einmal so gesagt hat:

„Wäre das Wort Danke das einzige Gebet, das du je sprichst, so würde es genügen.“

Eine Anregung zu dieser Predigt fand ich im Pfarrblatt Graz-Graben, Oktober/November 1998.

Illustration: Heilung der zehn Aussätzigen – Echternacher Kodex, 11. Jh.

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Maulbeerbaum-Geschichten

Wenn Fragen bleiben – und doch Vertrauen wächst

Manchmal scheint Gott fern – zu fern für das Leid dieser Welt.
Eli Wiesel, der Auschwitz überlebte, hat einmal gesagt: „Dort hängt er – am Galgen.“
Diese erschütternde Erfahrung führt mitten hinein in die alte Frage: Wo ist Gott, wenn Menschen leiden?
Die Lesungen dieses Sonntags bringen diese Frage ins Licht des Glaubens.
Meine Predigt sucht in diesem Spannungsfeld eine ehrliche Antwort: zwischen Klage, Vertrauen und der leisen Gewissheit, dass Gott selbst das Kreuz nicht gescheut hat.
Und sie lädt ein, die eigenen Maulbeerbaum-Geschichten zu entdecken – jene Augenblicke, in denen der Glaube trägt, auch wenn er klein ist.


Eli Wiesel, Friedensnobelpreisträger von 1986, erzählt in einem seiner Bücher ein Erlebnis, das sich ins Herz brennt – und das wahr ist.
Er war Insasse im Konzentrationslager Auschwitz.
Eines Abends befahl die SS allen Männern und Frauen, sich in einer Reihe aufzustellen. Zwei erwachsene Männer und ein kleiner Junge sollten gehängt werden. Das Urteil wurde von den SS-Männern kalt und mitleidlos vollstreckt. Die beiden erwachsenen Männer waren sofort tot. Nur der kleine Junge zappelte noch lange Zeit am Galgen zwischen Leben und Tod.
Eli Wiesel hörte hinter sich eine Stimme, die fragte:
Wo ist Gott?“ Und in sich selbst vernahm er die Antwort:
Dort hängt er – am Galgen.“

Diese Worte lassen mich seit dem ersten Lesen nicht mehr los. Sie sind nicht verstummt.
Man hört sie im Leid dieser Welt – in der Ukraine, in den Trümmern von Gaza, in der Nacht der Flut hier im Tal und in all dem, was auf der Welt so ungerecht verläuft.
Der Prophet Habakuk aus dem Alten Testament bringt diesen Schrei ins Wort. Nur einmal im Jahr, an diesem Sonntag, hören wir von ihm ein paar Verse:
Wie lange, HERR, soll ich noch rufen und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.“
(Hab 1,2)

Dieser Schrei ist zweieinhalbtausend Jahre alt – und doch so gegenwärtig.
Ich kenne ihn auch aus meinem Inneren. Wenn ich dem Leid anderer hilflos gegenüberstehe – ob durch die Medien oder mitten im eigenen Umfeld – dann schreie ich auch und ich frage: Warum?
Manchmal erschrecke ich über diese Frage. Habe ich zu wenig Glauben?
Da finde ich mich wieder in der Bitte der Apostel an Jesus im heutigen Evangelium:
Stärke unseren Glauben!“ (Lk 17,5)
Ja, Herr, stärke auch meinen Glauben.

Jesus reagiert auf die Bitte der Jünger überraschend klar, vielleicht auch provozierend.
Er sagt: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen:
Entwurzle dich und verpflanz dich ins Meer!
Und er würde euch gehorchen.“
(Lk 17,6)

Ein Maulbeerbaum, der Jahrhunderte überdauert hat – wie der Glaube, der trägt.

Menschlich gesehen ist es unmöglich, einen Maulbeerbaum mit seinen ausladenden Wurzeln ins Meer zu verpflanzen. Aber Jesus will sagen: Selbst ein winziger, unscheinbarer Glaube – so klein wie ein Senfkorn – kann Unmögliches möglich machen.
Wer an Gott glaubt, und sei der Glaube noch so klein, kann mehr bewirken, als er sich je vorstellen würde.

Ich wünsche Ihnen, dass jeder von Ihnen eine „Maulbeerbaum-Geschichte“ im eigenen Leben entdeckt:
Momente, in denen der Glaube geholfen hat, etwas Schweres zu bestehen.
Augenblicke, in denen es wieder hell wurde in der Dunkelheit.
Vielleicht war es ein Gebet in einer Nacht voller Sorgen.
Vielleicht ein Mensch, der plötzlich zur Hilfe kam.
Vielleicht eine Kraft, von der Sie nicht wussten, dass Sie sie haben.

Maulbeerbaum-Geschichten, die von unserem Glauben und seinem Potential erzählen – auch wenn er so klein ist wie ein Senfkorn.

Kehren wir noch einmal zurück zu Eli Wiesel.
Er hörte die Stimme: „Wo ist Gott?“ – und in sich selbst: „Dort hängt er, am Galgen.“
In unserer Kirche, vielleicht auch in unseren Wohnungen sehen wir immer wieder ein Kreuz und uns wird auch eine Antwort gezeigt:
„Wo ist Gott?“ – Dort, am Kreuz.

Dort hängt der, von dem der Apostel Paulus schreibt:
Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave, den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“
(Phil 2,6–8)

Dort hängt der, der mit uns Menschen alles geteilt hat – außer die Sünde.
Und auch da wird in mir wieder das „Warum?“ hörbar.
Ich weiß, dass meine Theologie viele Antworten kennt – aber sie erreichen oft nur den Kopf, selten das Herz.

Darum nehme ich meine Fragen mit – und sie werden im Laufe des Lebens eher mehr als weniger.
Doch ich bin gewiss, mein kleiner Glaube sagt es mir: Wenn ich am Ende meines Lebens vor Gott stehe, wird er mir Antworten geben.

Nicht wir in den Himmel – der Himmel zu uns!

Jesus spricht von der engen Tür und der verschlossenen Tür –  Bilder, die herausfordern und zugleich Hoffnung schenken. Es geht nicht darum, irgendwann in den Himmel zu kommen, sondern darum, dass der Himmel schon heute zu uns findet. Was das bedeutet und warum es unser Leben verändern kann, darum geht es in diesem Beitrag.


(c) Fabien/pixabay

Welche Gefühle löst das Bild einer verschlossenen Tür in Ihnen aus? Vielleicht wirkt es bedrückend, vielleicht macht es Angst. Niemand steht gern draußen vor einer geschlossenen Tür. Und doch gebraucht Jesus dieses Bild: die enge, schmale Tür und die verschlossene Tür. Warum?

Die enge Tür macht deutlich: es geht um jeden Einzelnen. Man kann nicht in der Masse hindurch, nicht heimlich durchschlüpfen. Jeder muss bewusst eintreten. Aber: diese Tür ist offen. Offen für Menschen, die Gott suchen, die ihm vertrauen. Auch eine enge Tür kann einladend sein – weil sich dahinter eine neue Welt eröffnet.
Jesus sagt: ‚Bemüht euch mit allen Kräften, durch die enge Tür zu gelangen.‘ Im griechischen Urtext steht für „bemüht Euch“ das Wort agonizein – es erinnert an ‚Agonie‘, den Todeskampf. Damit wird klar: es geht nicht um ein bisschen Mühe, sondern um Ernsthaftigkeit, um einen wirklichen Einsatz.“

Der Evangelist verbindet das Stichwort „Tür“ mit einem weiteren Bildwort Jesu. Die Geretteten werden als Festgesellschaft dargestellt, die mit dem Hausherrn Mahl feiert. Alle Plätze an der Tafel sind besetzt, die Tür wird abgeschlossen.
Bald erscheinen noch einige Nachzügler. Sie haben nach der Devise gelebt: „Nichts ist auf Erden so wichtig, dass es nicht auf morgen verschoben werden könnte. Der liebe Gott hat Zeit und kann warten“.

Den draußen Stehenden sagt der Hausherr: „Ich kenne euch nicht.“ „Die draußen bleiben, erwidern: ‚Wir haben doch mit dir gegessen und getrunken.‘ Sie berufen sich auf Bekanntschaft – wie wir es aus dem Alltag kennen: ‚Ich kenn da jemanden …‘ Beziehungen können hilfreich sein.  „He, ich kenn dich doch! Wir haben uns doch da oder dort getroffen“.
Jemanden zu kennen, der wieder jemanden kennt, kann gut sein. Etwa, wenn man schnell Hilfe braucht oder dringend benötigtes Material.
In unserer Welt bekommt der Mensch oft dadurch einen Wert, dass er von jemandem gekannt wird! Wehe dem, der niemanden kennt.

Da kann man nur sagen: Hoffentlich kennt Gott uns am Ende unseres Lebens! Verständlich ein solches Denken – aber es verführt uns, all‘ unser Bemühen darauf zu konzentrieren, in den Himmel zu kommen.

Der frühere Aachener Bischof Klaus Hemmerle hat es auf den Punkt gebracht: ‚Wir Christen sind nicht auf Erden, um in den Himmel zu kommen, sondern damit der Himmel zu uns kommt.‘ Das stellt vieles auf den Kopf – und genau darin liegt die Botschaft Jesu.“
Jesus lehrte seine Jünger im Vaterunser nicht zu beten: „Lass uns in Dein Reich kommen!“ sondern „Dein Reich komme!
Das ist Jesu Mission, den Himmel auf die Erde zu bringen. Die taumelnde Welt, von der ich schon vorletzten Sonntag gesprochen habe, soll himmlischer werden – auch in Dernau.

Kirche beschäftigt sich viel mit sich selber – mit Strukturen und nötigen Reformen. Wir fragen uns, wo gibt es Sonntag noch eine Messe? Was ist mit dieser und jener Tradition? Warum haben die Frauen nicht mehr zu sagen in der Kirche? Und und und. Sie kennen die Diskussionen – alle sind wichtig.
Aber oft vergessen wir darüber unsere eigentliche Berufung und Sendung: dafür zu sorgen, dass der Himmel auf die Erde kommt, wenigstens anfanghaft.

Es beginnt hier in der Messe. Die Wandlung ist das Wichtigste. Aber nicht nur die Gaben müssen verwandelt werden, sondern auch die Versammelten müssen sich wandeln lassen. „Leib und Blut Jesu Christi werden uns gegeben, damit wir verwandelt werden.“ sagte Papst Benedikt XVI. in diesen Tagen vor 20 Jahren beim Weltjugendtag in Köln.

Diese Verwandlung – so der Papst damals – „muß sich im Leben zeigen. Es muß sich zeigen in der Fähigkeit des Vergebens. Es muß sich zeigen in der Sensibilität für die Nöte des anderen. Es muß sich zeigen in der Bereitschaft zu teilen. Es muß sich zeigen im Einsatz für den Nächsten, den nahen wie den äußerlich fernen, der uns angeht.“

Genau darum geht es: wenn wir mit Jesus den Himmel auf die Erde bringen wollen. Nicht allein, sondern gemeinsam mit allen Menschen guten Willens – hier und heute, auch in Dernau.

Predigt am 24.8.2025 in Dernau

Eine himmlischere Welt ist eine menschlichere Welt

Am 10. August 2025 feierte die Kolpingfamilie Dernau ihr 60-jähriges Jubiläum – und zugleich die feierliche Einweihung des „Kolpingkellerchens“. Dieser Raum, gegenüber der Kirche gelegen, war bei der Flutkatastrophe 2021 schwer beschädigt worden und konnte dank Hilfe und Solidarität aus ganz Deutschland wiederhergestellt werden. In der Predigt zum Festgottesdienst geht es darum, biblische Hoffnung, die Gedanken seligen Adolph Kolping und die Geschichte des Dorfes zu einer Einladung werden zu lassen, Licht und Zeichen der Hoffnung in einer „taumelnden Welt“ zu sein.


Steht auf und gebt der Welt ein Lebenszeichen.
In jedem von euch brennt dasselbe Licht.
Noch ist es dunkel, doch die Nacht wird weichen.
Schenkt der Welt ein menschliches Gesicht.“
Diese Worte aus dem Musical „Kolpings Traum“ , das zum 200.Geburtstag Adolph Kolpings im Jahre 2013 entstanden ist, sind mehr als nur ein Lied. Sie sind eine Botschaft – ein Ruf.

Heute treffen sie auf uns:
• Wir feiern das 60-jährige Jubiläum unserer Kolpingfamilie
• und die Einweihung des Kolpingkellerchens.

Das „Kolpingkellerchen“ gegenüber der Kirche ist mehr als ein Raum:
Es erzählt von Zerstörung und Flut, von Hilfe und Solidarität, von Hoffnung und Neubeginn.
Es steht sinnbildlich für unser ganzes Dorf:
Was zerstört war, wächst nach und nach neu. Was dunkel war, wird hell.

Im Evangelium haben wir von einer Situation gehört, die nicht einmalig ist: Jesus sieht die Menschenmenge – hungrig, erschöpft.
„Hungrig und erschöpft“ – vielleicht auch Bild für die Menschen heute.
Sie hungern „nach Frieden, nach Gerechtigkeit, nach einer Mitwelt, in der man das Wasser trinken und die Luft atmen kann, ohne dass sie schaden.“, wie es der Pastoraltheologe Paul Zulehner in einer Rede in dieser Woche in Wien sagte. Sie sind erschöpft, sie leben in einer „taumelnden Welt“.

Jesus sagt damals: „Ich will sie nicht hungrig nach Hause gehen lassen.“ Und fragt die Jünger: „Wieviel Brot habt Ihr?“
Sieben Brote und ein paar Fische – mehr ist nicht da.
Doch Jesus lässt sie teilen und segnet sie. Und es reicht für alle!
Das Wunder beginnt nicht erst bei Gott –
es beginnt dort, wo Menschen ihr Weniges teilen.

Ist das nicht auch die Erfahrung nach der Flut?
• Jeder brachte, was er konnte: Zeit, Kraft, Werkzeuge, Spenden.
• Aus Wenigem wurde viel.
• Mutlosigkeit verwandelte sich in Hoffnung.
Gott wirkt dort, wo Menschen teilen.

Der Theologe, den ich eben zitierte, sagte dazu am Mittwoch: „Christen werden zu Himmelsgeschenken und zu Hoffnungshebammen für die Welt. Eine himmlischere Welt ist eine menschlichere Weltauch in Dernau.

So wird unser Kolpingkellerchen, das heute Nachmittag der Bischof einweiht, zu einem Zeichen für vieles, was wir im Dorf erleben:
• Es ist Solidarität zum Anfassen.
• Es ist Hoffnung zum Greifen.
• Es ist Gemeinschaft, die bleibt.
Auf unser tätiges Christentum kommt’s an … wir müssen es frisch und wohlgemut ins bürgerliche Leben hinaustragen.“ so sprach Kolping schon vor fast 200 Jahren.“
Hier – und in vielen Häusern unseres Dorfes – lebt dieses tätige Christentum.
Nicht nur in der Kirche. Nicht nur in der Liturgie. Sondern im Alltag.

Das Lied, das ich am Anfang zitierte, legt Adolph Kolping diese Worte in den Mund:
Steht auf und gebt der Welt ein Lebenszeichen!“
Schenkt der Welt ein menschliches Gesicht.
Hier im Altar, in dem Bergkristall ist eine Reliquie von Adolph Kolping. Sie erinnert uns immer wieder, was das bedeutet:
• Nicht stehen bleiben beim Dank.
• Nicht nur unter uns bleiben.
• Hinausgehen – Licht sein – Hoffnung schenken.

Heute feiern wir nicht nur einen Raum oder ein Jubiläum.
Wir feiern die Erfahrung: Gott ist mitten unter uns.
In geteiltem Leid und Freude.
In helfenden Händen.

Und wir hören den Ruf:
Steht auf und gebt der Welt ein Lebenszeichen!
Schenkt der Welt ein menschliches Gesicht.“
• Zeigen wir unser Licht.
• Schenken wir der Welt ein menschliches Gesicht.
• Machen wir die Häuser in unserem Dorf zu Orten, von denen Hoffnung ausgeht.
Dann wird Kolpings Traum weiterleben – hier bei uns, sichtbar für alle.

 

Das Evangelium vom „Jedermann“

In diesen Wochen verwandelt sich Salzburg wieder in eine große Bühne: Die Salzburger Festspiele laufen auf Hochtouren. Und wie jedes Jahr zieht eine Aufführung ganz besonders die Menschen an: „Jedermann“ von Hugo von Hofmannsthal – das Spiel vom Sterben des reichen Mannes.

Jedermann und der Tod – Bild: Jedermann (Salzburger Festspiele 2024), © SF / Monika Rittershaus

Es ist wohl nicht nur die einmalige Kulisse des Salzburger Domplatzes oder die prominente Besetzung, die jedes Jahr so viele Zuschauer anzieht. Es hat sicher auch mit dem Inhalt zu tun.

Gott befiehlt dem Tod, Jedermann vor seinen Richterstuhl zu bringen. Der reiche Jedermann, der sein Leben in Saus und Braus führt und kaum Mitgefühl für die Sorgen anderer kennt, gibt gerade ein prunkvolles Festmahl.

Plötzlich ertönt sein Name: „Jedermann!“ – für alle hörbar. Der Tod tritt auf und verkündet sein Ende. Schlagartig verlassen ihn die Freunde. Wo eben noch gelacht und gefeiert wurde, herrscht beklemmende Stille.

Jedermann bittet den Tod, einen Begleiter mitnehmen zu dürfen. Doch alle verweigern sich – selbst sein Vermögen, personifiziert durch den Mammon.
Erst als er Reue zeigt, findet er Begleiter: seine guten Werke und den Glauben. Der Teufel erhebt Anspruch auf seine Seele, wird aber vom Glauben abgewehrt. In einer versöhnlichen Schlussszene geht Jedermann heim in Gottes Vergebung.

Der Stoff, aus dem Hofmannsthal schöpfte, ist uralt und zugleich zeitlos aktuell. Er birgt eine große Lebensweisheit. Ich vermute, Hofmannsthal kannte das heutige Evangelium – man könnte sagen: Es ist das Evangelium vom „Jedermann“. Und mit „Jedermann“ ist jeder Mensch gemeint – Mann wie Frau.

Viele glauben: „Wer Geld hat, kann sich alles leisten, dem geht es gut.“ Doch kein Reichtum kann unser Leben absichern: Krankheiten, Unfälle oder Katastrophen wie die Flut vor vier Jahren können alles verändern.

Paulus schreibt im Kolosserbrief:
„Richtet euren Sinn auf das, was oben ist, nicht auf das Irdische! […] Ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und habt den neuen Menschen angezogen, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen.“ (Kol 3,2.9b-10)

Was Paulus sagt, das haben die meisten von uns schon einmal erlebt – die meisten wahrscheinlich unbewusst. Bei der Taufe wird dem Täufling ein Kleid angezogen oder übergezogen. Der Text ist also eine Tauferinnerung! Der alte Mensch wird abgelegt, der neue angezogen. So wie man sich der Arbeitsklamotten entledigt und festliche Kleidung anzieht, wenn man eingeladen ist.
In jeder Taufe geschieht das! Auch in meiner, auch in Ihrer Taufe. Ich wurde ganz neu angezogen!
Und diese Kleidung ist nicht nur etwas Äußeres, es ist die Kleidung unserer Seele, die wir auch jetzt tragen in diesem Gottesdienst, wo jeder von Ihnen sich etwas anderes angezogen hat.
Wir alle sind jetzt Gäste Gottes. Fein geschmückt durch das Kleid unserer Taufe. Mehr: wir sind nach dem Bild des Schöpfers erneuert.

Das stellt alles Irdische in ein neues Licht.
Bei Hofmannsthal geht der reiche Mann nicht unter, sondern heim zu Gott – gerettet durch Vertrauen und Glauben an Gottes Treue.

Jesus sagt nicht, wie der Mann im Evangelium auf Gottes Ruf reagiert. Wir müssen es auch nicht wissen. Denn wir wissen: Unsere Geschichte ist durch die Taufe entschieden. Es gilt nur, sie  – wie Jedermann – in unserem Leben sichtbar zu machen – jeden Tag.

Predigt am 3.8.2025 in Dernau

 

 

Der Schaukler

Ein uraltes Fresko in der Kirche von Naturns. Vorkarolingisch, rätselhaft. Ein Mensch auf einer Schaukel. Die Zeit ist nicht wichtig, die Deutung auch nicht – denn das Bild wirkt unabhängig davon, wer darauf sitzt. Es könnte Paulus sein, der an Seilen flieht. Es könnte Prokulus sein, auch ein heiliger Flüchtling.
Doch für mich – es könnte meine Schwester sein, als sie klein war und mit Hingabe schaukelte, ein singendes Kind mit offenen Händen und einem Herzen voller Geschichten.

So beginnt mein Schwingen zwischen den Welten: zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen theologischer Deutung und persönlicher Erinnerung.
Die Schaukel ist ein Ort der Gegensätze:
Freiheit und Halt. Erdung und Schweben. Kontrolle und Hingabe.
Und jedes Kind, das schaukelt, kennt diesen Spannungsbogen – kennt die stille Freude, wenn der Körper sich dem Wind überlässt und der Blick sich dem Himmel zuwendet.

Da war ich als geliebtes Kind bei ihm. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit.“ (Sprüche 8,30)
Der Vers ist uralt und steht ursprünglich in einem anderen Zusammenhang, aber für mich wird er lebendig am Schaukelbaum, auf dem Feld, im Herzen.
Die Schaukel wird zum Ort des Vertrauens.

Kein Knie muss sich beugen, keine Angst muss vorangehen.
Nur das Schwingen im Rhythmus der Liebe – ein Kind vor Gott.

Ich denke an die vielen Gesichter der Angst: Menschen, die gezittert haben vor einem Gott, der nur beobachtet, kontrolliert, richtet. Wie oft habe ich mir gewünscht, ich könnte sie vor Gott auf eine Schaukel setzen. Und ich mich dazu. Gemeinsam ins Licht und wieder zurück – bis der Puls sich beruhigt und das Herz sich öffnet.

Denn vielleicht ist Glaube genau das:
Zu wissen, dass ich gehalten bin – selbst wenn ich mich bewege.
Zu spüren, dass ich fliegen darf – ohne zu fallen.
Zu hoffen, dass Gott nicht am Rand steht, sondern mit anschiebt, mitlacht, mitfliegt.


Ich schwinge durch die Lüfte leicht,
die Welt wird still, mein Herz erreicht
den Punkt, wo Sorgen nicht mehr sind –
ich flieg’, getragen wie ein Kind.

Ein Windhauch trägt mein Lachen weit,
die Zeit verliert ihr schweres Kleid.
Ich bin zugleich ganz hier und dort –
ein Wippen zwischen Traum und Ort.