Vorgestern hatte ich ein Gespräch Professor Michael Theobald, der in den letzten Jahren über den Prozess Jesu geforscht hat. Es war interessant zu hören, wie die Evangelisten in den verschiedenen Leidensgeschichten ihre Erzählungen geschrieben haben, um das Glaubensbekenntnis „Gott hat den Gekreuzigten nicht im Tod gelassen, sondern ihn auferweckt“, auf das alles hinausläuft, zu illustrieren.
Es war für die Anhänger Jesu schon ein Schock gewesen, dass Jesus verurteilt und gekreuzigt wurde. Sie hatten im Ohr das Wort aus dem Buch Deuteronomium: „Wenn jemand [….] hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, 23 dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben; denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter.“
Wie geht das zusammen? Jesus, ein Verfluchter Gottes?
Nein, sagen die Passionserzählungen und sie verweisen auf die alttestamentlichen Texte und Psalmen, die das Geschick Jesu anders deuten: Er ist der leidende Gottesknecht, von dem Jesaja spricht: „Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen.( Jes 52,14)“. Und der römische Hauptmann spricht das Glaubensbekenntnis der jungen Christengemeinde aus, wenn Markus, Lukas, Matthäus ihn sagen lassen: Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.
Hinter dem, was wir da in den Passionsgeschichten hören, steckt das Ringen der ersten Christen um die Deutung der Geschehnisse. Sie bemerken auch: von dem, was die eigentliche Sendung Jesu ausgemacht hat, seine Botschaft vom Reich Gottes, seine Zuwendung hin zu den Menschen, ist in den Erzählungen von der Verhaftung, dem Verhör, dem „Prozess“ vor Pilatus und der Kreuzigung kaum die Rede.
Deshalb haben die Evangelisten und später die Volksfrömmigkeit in die Geschichten kleine Episoden hineingewebt, die uns etwas erzählen über diesen Mann aus Nazareth. Die kleinen Episoden rücken Randgestalten der Passion mit ihren Botschaften in die Mitte.
An drei Beispielen möchte ich das zeigen:
Ich erinnere mich an den Film „Die Passion“ von Mel Gibson. Er ist der Versuch eines Filmemachers darzustellen, was er von der Passion Jesus verstanden hat.
Es gab in dem Film drei Szenen, die mich sehr beeindruckt haben; drei Kreuzwegstationen, die aus dem Evangelium stammen oder aus der Volksfrömmigkeit, und die zeigen, wie Randfiguren des Geschehens uns eine Botschaft übermitteln:
Veronika
der Film ist sehr laut, man sieht die brüllende und schlagende Soldateska, die roh und gewaltsam den Kreuztragenden Jesus vorantreiben. Immer wieder strauchelt er, fällt er stolpert in den Schmutz des Weges. Da verstummt plötzlich der Lärm und man sieht eine junge Frau, die sich unbeirrt von den Soldaten den Weg durch die Menge bahnt, vor dem zusammengebrochenen Jesus niederkniet und ihm ein Tuch reicht, mit dem er sich Schweiß und Blut abwischen kann.
Die Szene dauert nicht lange, denn bevor sie dem Kraftlosen noch einen Becher Wasser reichen kann, wird sie von den gewalttätigen Soldaten weggezerrt. Das Böse lässt das Gute nicht zu.
Für mich nimmt Veronika das Gesicht von Menschen an, die ähnlich handeln. Die nicht mit einer großen Tat, sondern mit einer kleinen Geste am Rand des Kreuzweges der Menschen stehen, die sich nicht beirren lassen von Wenns und Abers, von Konventionen, Gesetzmässigkeiten, die das Gute gegen das Böse setzen.
Veronika, eine Randfigur, deren Tun viel erzählt von der Botschaft Jesu.
Simon von Cyrene
die Schrift kennt ihn, als den, der Jesus hilft das Kreuz zu tragen. Im Film wird er dargestellt als einer, der sich zuerst mit Händen und Füßen wehrt, diese Hilfe zu leisten.
Man zwingt ihn. Angesichts der rohen Gewalt, die er erlebt, sieht man seine Wandlung, die ihn schließlich eingreifen lässt. Ohnmächtig schreit er die Soldaten an.
Und dann gehen beide weiter, wie Freunde umschlingen sie das Kreuz, Simon hält den strauchelnden Jesus, fast schon zärtlich zieht er ihn wieder hoch und flüstert ihm angesichts des Kreuzeshügel zu: „Fast geschafft“. Das letzte Stück trägt er die Last fast allein. Der letzte Blick der beiden oben auf Golgotha ist der Blick von Freunden, die sich nahe gekommen sind im Leid.
Für mich nimmt Simon das Gesicht der Menschen an, die sich auf den Kreuzweg anderer einlassen, die mittragen, auch wenn die Last fast unerträglich ist. Ich denke an die Menschen in den Hilfsorganisationen ebenso wie an die Partner und Freunde, die mitgehen, wenn die Last für einen allein zu schwer wird.
Simon von Cyrene, eine Randfigur der Passion, deren Tun viel erzählt von der Botschaft Jesu.
Maria
die Gefühle der Mutter am Kreuzweg, unter dem Kreuz und bei der Kreuzabnahme haben die Menschen schon immer berührt. Gibson zeigt in seinem Film eine Szene, die so gewiss erfunden ist, und doch ähnlich wie viele Darstellungen der Pieta in der Kunst anrührt und Trost gibt.
Maria sieht ihren Sohn unter der Last des Kreuzes zusammenbrechen. Sie eilt zu ihm, währenddessen sieht der Zuschauer in einer Rückblende eine Szene aus der Kindheit, in der Jesus als Kind spielt, läuft und fällt. So wie damals kniet die Mutter bei ihrem gefallenen Sohn und sagt: „Ich bin hier!“
Wer schon einmal in seinem Leid, sei es körperlich oder seelisch, die Erfahrung gemacht hat, dass ein anderer ihm sagte: “Ich bin hier“, ich bin da, ich bin bei dir – auch in der gleichen Hilflosigkeit und Ohnmacht wie man selbst, der wird den Trost erkennen, der in dieser Szene liegt.
Maria, ihr Tun erzählt von der Botschaft ihres Sohnes.
Der Kreuzweg Jesu hier in Jerusalem war einmalig und doch zieht er sich durch die Zeit. „Seht den Menschen“, sagt Pilatus. In dem gegeißelten Herrn, der vor ihm steht, sehen wir die Gesichter der leidenden Menschen durch die Menschheitsgeschichte hindurch.
Und gleichzeitig wird mein Blick voll Dankbarkeit auf jene Menschen gelenkt, die sich mit dem Leiden nicht abfinden, sondern an den Kreuzwegen stehen, auch an unserem, wie Veronika, Simon und Maria und in deren Verhalten etwas von dem sichtbar wird, was die Botschaft und Sendung des Gekreuzigten war und ist. So gesehen rücken die Randfiguren in die Mitte der Betrachtung.