Lichtdurchfluteter Anfang

„Aus kleinem Anfang entspringen alle Dinge“ (Cicero). Deshalb tut es gut, sich der Anfänge zu erinnern und nicht nur die Ergebnisse am Ende zu betrachten. Das schmälert nicht die Leistung, sondern macht demütig angesichts des Erreichten. So auch bei der Gotik, deren Baumeister uns grossartige Kathedralen geschenkt haben. Alles begann mit dem genialen Abt Suger von St.Denis vor den Toren Paris, der im 12.Jahrhundert die karolingische Kirchenanlage aus dem 8.Jahrhundert mit einer Eingangshalle und einem neuen Chor versah in einem neuen Baustil, der auf dicke Mauern verzichtete und stattdessen lichtdurchflutete Räume mit großen Fensterflächen schuf.

20130727-100655.jpg Die Fassade von St.Denis

20130727-100747.jpg Eine der klugen Jungfrauen. Beliebtes Fassaden-Motiv in der Gotik

20130727-100926.jpg Blick ins Kirchenschiff. Das Langhaus aus dem 12.Jhdt.

20130727-101050.jpg der erste gotische Chor

20130727-101223.jpg Rosette im Querschiff

20130727-101311.jpg Madonna

20130727-101353.jpg Die Anfänge von St.Denis reichen bis in die Römerzeit

20130727-101501.jpg Kapitell in der Krypta

Zwischen Zuneigung und Hass

Religion ist immer auch eine Sache der Emotionen. „Recordare“ sagt der Lateiner. Glauben – das Herz wieder schenken. Und unser deutscher (indogermanischer) Begriff bedeutet in seiner altindischen Wurzel „sein Herz auf jemanden setzen“. Das Gegenteil besteht in der Verweigerung des Herzens, schlimmstenfalls im Hass. Kaum jemand steht der Religion indifferent gegenüber. Die Kathedralen Frankreichs erzählen von beidem: von der Verehrung Gottes und der Heiligen und vom Hass auf alles Religiöse, vor allem auch auf die Kirche. Die Feudalherrschaft der Kirche, ihre oft schamlose Beteiligung an der Macht und der Ausbeutung der Menschen blieb in den Religionskriegen und den Jahren der Revolution nicht ohne Folgen. Die Figuren an den Kirchenportalen wurden zerschlagen – Ausdruck von Wut und Hass. Die abgeschlagenen Köpfe mahnen uns, dass die Kirchen immer auf der Seite der Armen und Schwachen stehen muss.

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< Portal S.Etienne Beauvais - Krönung Mariens 20130725-180342.jpg Portal Kathedrale von Senlis – Krönung Mariens

20130725-180429.jpg Madonna – Kathedrale von Senlis

20130725-180522.jpg Goldene Madonna Kathedrale von Amiens

20130725-180806.jpg Madonna – Kirche vonn Morienval

20130725-180951.jpg Madonna – Abbaye Royaumont

Grenzüberschreitend

„Altius, citius, fortius“ (höher, schneller, weiter (eigentlich stärker)), das Motto der neuzeitlichen Olympiade hat die Menschheit schon immer beflügelt. Oft ist damit allerdings auch der Versuch verbunden, die Grenzen, die uns der Schöpfer gesetzt hat, zu überwinden und selbst an die Stelle Gottes zu treten. Die Bibel erzählt von dem gescheiterten Versuch beim Turmbau zu Babel, als die Menschen einen Turm bauen wollen, der bis an den Himmel reichen sollte. (Bibel Buch Genesis Kapitel 11) Der jüdische Talmud weiß, dass man beim Bau mehr weinte um einen Stein, der herunterfiel, als um einen Menschen, der dabei verletzt oder getötet wurde. Bald schon stand man vor dem Scherbenhaufen seiner Bemühungen. Auch die Geschichte der Gotik kennt einen solchen Versuch der Grenzüberschreitung: in Beauvais wollte man die größte Kathedrale bauen, größer, höher als alle bekannten gotischen Kathedralen. Auch hier scheiterte der Mensch mit seinem Stolz. Übrig bleibt ein Torso, der uns durch die Jahrhunderte hindurch mahnt, demütig zu sein, dass heißt, die Grenzen anzuerkennen, die uns der Schöpfer gesetzt hat.

20130725-084727.jpg Die Kathedrale von Beauvais bleibt unvollendet

20130725-084959.jpg Das Langhaus fehlt. Stattdessen steht dort noch der alte karolingische Vorgängerbau

20130725-085123.jpg Auch heute noch notwendig: riesige Stützen

20130725-085235.jpg Stüttzen auch im Querschiff

20130725-085336.jpg Schon gewaltig: Gewölbe des Chors

20130725-085431.jpg Die Schöpfung – der Schöpfer und sein Geschöpf. Wandteppich aus dem 20.Jahrhdt. in der Tapisserie neben der Kathedrale

Comics im Mittelalter

Als Kinder war uns die „Lektüre“ von Comics verboten. Die bunten Bildergeschichten seien gedacht für Lesefaule oder Analphabeten, hieß es. Asterix und Co. mit ihren durchaus geistreichen Dialogen kannte unser Lehrer noch nicht. Im Mittelalter, als nur ganz wenige Menschen des Lesens kundig waren, waren unsere Kirchen übersät mit Bildergeschichten, der sogenannten „Bibel für die Armen“. Hier wurde den Menschen biblische Geschichte anschaulich nahe gebracht. Aber sie lernten nicht nur fromme Dinge, auch ganz Alltägliches fanden sie in den Darstellungen an den Kathedralen wieder. Uns müssen die Bilder heute wieder erschlossen werden. In der Bilderflut der Gegenwart haben wir das richtige Schauen verlernt.

20130724-180216.jpg Passionsfenster in Laon – Getsemani – „Konntet Ihr nicht eine Stunde mit mir wachen!“

20130724-180341.jpg Die Ochsen am Turm der Kathedrale von Laon – die Leistung von Mensch und Tier bei der Erbauung eines solchen Bauwerks

20130724-180535.jpg Auferstehung Christi – Wandgemälde in der Kathedrale von Noyon. Mehrere Szenen in einem Bild.

20130724-180723.jpg Christus, der Weltenrichter. Das Gericht gibt dem ganzen Leben eine Struktur. Unser Reden und Tun versinkt nicht im Nichts. Kathedrale von St. Denis

20130724-180854.jpg Unser Leben auf der Waage. Gewogen und hoffentlich nicht zu leicht befunden. Kathedrale von Amiens

20130724-181018.jpg Der Gerechte ohne Angst – geborgen in Abrahams Schoss. Kathedrale von St. Denis

20130724-181209.jpg Predigt des Hl. Firminius. Kathedrale von Amiens

20130724-181259.jpg Bei einer Predigt hört man zu und schläft nicht ein.

Antidepressive Architektur

Wer erinnert sich nicht an den Hype, der um das Jahr 2000 gemacht wurde. Was wurde uns nicht alles prophezeit bis hin zum Weltuntergang. Beim ersten Jahrtausendwechsel war es nicht anders. Die 1000 Jahre der Apokalypse (Offenbarung des Johannes Kapitel 20) gingen zu Ende und angesichts der Naturkatastrophen und Seuchen schienen sich die biblischen Worte zu erfüllen. Es herrschte Weltuntergangsstimmung. Zur gleichen Zeit begannen die Menschen große Kathedralen zu bauen. Steinerne Bollwerke gegen das Böse, ein Abbild des himmlischen Jerusalem auf Erden. Ein Mittel gegen die depressive Stimmung, denn große Kirchen baut man nicht für den Untergang, sondern für die Zukunft. Die, die sie begannen, erlebten selten ihre Vollendung. Antoine de Saint-Exupéry sagt: „Ein Steinhaufen hört auf, ein Steinhaufen zu sein, sobald ein einziger Mensch ihn betrachtet, der das Bild einer Kathedrale in sich trägt.“

Kirche von Morienval und Kathedrale von Noyon

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