Die Nacht des Jehuda

 

Seit ich gestern den Gottesdienst für heute Morgen hier in Jerusalem vorbereitet habe, fasziniert mich wieder dieses Bild. Es ist das Cover-Foto einer DVD. Aber dazu mehr später.

Einer der Protagonisten im heutigen Tagesevangelium ist Judas. Er verlässt das Pessachmahl mit Jesus und seinen Jüngern um sein Werk, den Verrat an Jesus fortzusetzen.
Judas – mehr als ein Name, ein Synonym für Verrat, Untreue, Schuld. Die Wurzel für furchtbaren Antisemitismus. Ein Deutschland wird kein Standesamt ein Kind mit diesem Namen registrieren.

Judas – die griechische Form für den hebräischen Namen Jehuda – einer aus dem Stamm Juda, übersetzt vielleicht mit „Gott will ich loben“ oder „der Gelobte“.

Er gehörte zu den Aposteln Jesu – wie Petrus, Andreas und die anderen. Weil es zwei Jünger mit diesem Namen gab, erhielt er den Beinamen „Iskariot“ und manchmal das Attribut „der, der Jesus verriet“. Eine Un-Person, der Schlimmste von allen, vom Teufel besessen. Wie alle die anderen Jünger war er fasziniert von allem, was Jesus sagte und tat. Wie die anderen feierte er mit Jesus das Pessachmahl, an dessen Ende Jesus den Verrat ankündigt und den Verräter indirekt entlarvt.

Der Evangelist Johannes schreibt: Als Judas den Bissen Brot genommen hatte, ging er sofort hinaus. Es war aber Nacht. (Joh 13,30)

Die Zeitangaben im Johannes-Evangelium sind nie zufällig. „Nacht“ bedeutet mehr als die Zeitspanne zwischen Sonnenuntergang und -aufgang. „Nacht bedeutet Kommunikationslosigkeit, in der einer den anderen nicht sieht. Sie ist Sinnbild des Nicht-Verstehens, der Verdunkelung der Wahrheit. Sie ist der Raum, in dem das Böse sich entfalten kann, das sich vor dem Licht verstecken muß.[…] Nacht ist letztlich Symbol des Todes, des endgültigen Verlustes von Gemeinschaft und Leben.“ (1)

Was Jehuda wirklich umtreibt, weiß niemand. Es ist nicht zu verstehen. Jehuda versteht sich ja selber nicht und endet tragisch, indem er sich selbst erhängt. Die Nacht hält an bis heute. Mit Judas will niemand etwas zu tun haben.

Aber bevor auch Sie sich abwenden und das Kapitel als erledigt betrachtet, schauen Sie noch einen Augenblick auf die Ballett-Inszenierung von Bachs Matthäus-Passion – ein Werk von John Neumaier.

Der Tänzer, der den Jehuda tanzt, tut dies so leidenschaftlich, so verzweifelt liebend und so zerrissen, dass er schließlich zusammenbricht.

Der Christ John Neumeier gibt der Geschichte eine etwas andere Wendung als die, die wir aus den biblischen Texten gewohnt sind: Jesus richtet den Jehuda auf. Es kommt zum Kuss. Aber die Rollen sind wie vertauscht – Jesus küsst Jehuda! Dann wird Jesus verhaftet. Es ist aber, als ob beide gefangen genommen werden. Der eine gefesselt von den Soldaten, der andere verstrickt in seine Schuld.

In Neumeiers Passion-Erzählung: küssen alle Jünger Jesus. Alle tragen Schuld. Alle werden ihn verlassen. Nicht nur der Verräter.

Und dann: Jesus geht auf der Bühne einen weiten Weg und trägt dabei den Jehuda auf seinen Schultern. So wie er später das Kreuz tragen wird. Oder wie ein Hirte ein Schaf trägt. (siehe Foto oben)

Als ich das Bild davon zum ersten Mal sah, war ich im Inneren erschüttert. Es gibt so viele Menschen, die eine Nacht wie  Yehuda erleben – vielleicht kennen Sie auch solche Stunden. Stunden, in denen Sie sich selbst nicht verstehen. Stunden, in denen das Dunkel im Innern nur schwer auszuhalten ist.

Wenn ich mir dann vorstelle, dass der Herr mich trägt – was will ich noch mehr?

(1) Benedikt XVI. Gründonnerstag 2012

Bei YouTube findet man drei Beiträge zu Neumaiers Inszenierung:
einen Trailer
die Arie „Ich will bei meinem Jesus wachen“
und (leider) nur den zweiten Teil  mit dem Tod des Judas.