Rothenburg – oder was Leerstellen lehren können

Rothenburg ob der Tauber. Touristenmagnet mit mehreren Millionen Besuchern jährlich. Man fotografiert, kauft ein, amüsiert sich über den Ideenreichtum der Souvenir-Produzenten, isst und trinkt – und bleibt ein Teil der Masse. Wer aber genauer hinschaut, der entdeckt in der Stadt und der näheren Umgebung zwei Kunstwerke, die eine nähere Betrachtung lohnen, weil der Betrachter ein Teil dieser Kunstwerke wird.

Für die St.Jakobskirche in Rothenburg schuf Tilmann Riemenschneider 1501-1505 den Heiligblut-Altar. Mit diesem Retabel sollte eine Heilig-Blut-Reliquie aus dem 13.Jahrhundert einen angemessenen und würdigen Rahmen finden. Sie ist in einem Bergkristall in einem vergoldeten Kreuz eingeschlossen.
Der Betrachter aber sieht als Erstes eine Abendmahlszene, in deren Mittelpunkt nicht Jesus steht, sondern Judas, der Verräter. In erkennt man deutlich an dem Beutel mit den 30 Silberlingen, dem Blutgeld, den er in den Händen hält. Trotzdem reicht ihm Jesus den Bissen Brot, lädt er ihn ein an den Tisch.
Die übrigen Apostel sind verwirrt und diskutieren miteinander, während Johannes, der Lieblingsjünger an der Brust des Herrn ruht.
Die Figur des Judas konnte auch aus dem Altar entfernt werden und man vermutet, dass an den Kartagen sein Platz deshalb leer blieb: deutliches Zeichen, dass die Betrachter, jede/r dieser Judas sein kann.
An den anderen Tagen lädt die zentrale Figur dieses Altarbildes ein, sich ihm anzuschließen. Sich trotz der eigenen Sünden vom Herrn zu Tisch bitten zu lassen. Wer sich einladen lässt und nach oben schaut, sieht das Reliquiar und hört die Botschaft: „Ihr wisst, dass ihr aus eurer sinnlosen, von den Vätern ererbten Lebensweise nicht um einen vergänglichen Preis losgekauft wurdet, nicht um Silber oder Gold, sondern mit dem kostbaren Blut Christi, des Lammes ohne Fehl und Makel.“ (1 Petrusbrief Kapitel 1, Verse 18-19)

Als 1653 ein Kreuzigungsretabel von Tilmann Riemenschneider aus einer Rothenburger Kirche in das kleine Kirchlein in Detwang gebracht wurde, musste man feststellen, dass es 44cm zu breit war. Also musste man es seitlich verkürzen und auf zwei Figuren verzichten.
In der Gruppe der Frauen rechts unter dem Kreuz fehlt jetzt die Figur der Maria Magdalena und links unter dem Kreuz, wo der Hohepriester und die Soldaten stehen, hat man den römischen Hauptmann entfernen müssen.
Die Leerstellen machen das Bild unvollständig und laden den Betrachter ein, sie auszufüllen und die Plätze einzunehmen.
Den Platz der Sünderin, der viel verziehen worden ist und die am Ostertag zur Apostolin der Apostel wird. Auf sie trifft das Wort des Hohenlieds zu: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich ihn, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Aufstehen will ich, die Stadt durchstreifen, die Gassen und Plätze, ihn suchen, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn und fand ihn nicht. Mich fanden die Wächter bei ihrer Runde durch die Stadt. Habt ihr ihn gesehen, den meine Seele liebt? Kaum war ich an ihnen vorüber, fand ich ihn, den meine Seele liebt.“ (Hoheslied Kapitel 3 Verse 1-a)
Den Platz des Hauptmanns, der nicht mit den anderen spottet und mitläuft, sondern sich sein eigenes Urteil bildet und das erste Glaubensbekenntnis im Angesicht des Todes Jesu spricht: „Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Markus-Evangelium Kapitel 15 Vers 39)