Maulbeerbaum-Geschichten

Wenn Fragen bleiben – und doch Vertrauen wächst

Manchmal scheint Gott fern – zu fern für das Leid dieser Welt.
Eli Wiesel, der Auschwitz überlebte, hat einmal gesagt: „Dort hängt er – am Galgen.“
Diese erschütternde Erfahrung führt mitten hinein in die alte Frage: Wo ist Gott, wenn Menschen leiden?
Die Lesungen dieses Sonntags bringen diese Frage ins Licht des Glaubens.
Meine Predigt sucht in diesem Spannungsfeld eine ehrliche Antwort: zwischen Klage, Vertrauen und der leisen Gewissheit, dass Gott selbst das Kreuz nicht gescheut hat.
Und sie lädt ein, die eigenen Maulbeerbaum-Geschichten zu entdecken – jene Augenblicke, in denen der Glaube trägt, auch wenn er klein ist.


Eli Wiesel, Friedensnobelpreisträger von 1986, erzählt in einem seiner Bücher ein Erlebnis, das sich ins Herz brennt – und das wahr ist.
Er war Insasse im Konzentrationslager Auschwitz.
Eines Abends befahl die SS allen Männern und Frauen, sich in einer Reihe aufzustellen. Zwei erwachsene Männer und ein kleiner Junge sollten gehängt werden. Das Urteil wurde von den SS-Männern kalt und mitleidlos vollstreckt. Die beiden erwachsenen Männer waren sofort tot. Nur der kleine Junge zappelte noch lange Zeit am Galgen zwischen Leben und Tod.
Eli Wiesel hörte hinter sich eine Stimme, die fragte:
Wo ist Gott?“ Und in sich selbst vernahm er die Antwort:
Dort hängt er – am Galgen.“

Diese Worte lassen mich seit dem ersten Lesen nicht mehr los. Sie sind nicht verstummt.
Man hört sie im Leid dieser Welt – in der Ukraine, in den Trümmern von Gaza, in der Nacht der Flut hier im Tal und in all dem, was auf der Welt so ungerecht verläuft.
Der Prophet Habakuk aus dem Alten Testament bringt diesen Schrei ins Wort. Nur einmal im Jahr, an diesem Sonntag, hören wir von ihm ein paar Verse:
Wie lange, HERR, soll ich noch rufen und du hörst nicht?
Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.“
(Hab 1,2)

Dieser Schrei ist zweieinhalbtausend Jahre alt – und doch so gegenwärtig.
Ich kenne ihn auch aus meinem Inneren. Wenn ich dem Leid anderer hilflos gegenüberstehe – ob durch die Medien oder mitten im eigenen Umfeld – dann schreie ich auch und ich frage: Warum?
Manchmal erschrecke ich über diese Frage. Habe ich zu wenig Glauben?
Da finde ich mich wieder in der Bitte der Apostel an Jesus im heutigen Evangelium:
Stärke unseren Glauben!“ (Lk 17,5)
Ja, Herr, stärke auch meinen Glauben.

Jesus reagiert auf die Bitte der Jünger überraschend klar, vielleicht auch provozierend.
Er sagt: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen:
Entwurzle dich und verpflanz dich ins Meer!
Und er würde euch gehorchen.“
(Lk 17,6)

Ein Maulbeerbaum, der Jahrhunderte überdauert hat – wie der Glaube, der trägt.

Menschlich gesehen ist es unmöglich, einen Maulbeerbaum mit seinen ausladenden Wurzeln ins Meer zu verpflanzen. Aber Jesus will sagen: Selbst ein winziger, unscheinbarer Glaube – so klein wie ein Senfkorn – kann Unmögliches möglich machen.
Wer an Gott glaubt, und sei der Glaube noch so klein, kann mehr bewirken, als er sich je vorstellen würde.

Ich wünsche Ihnen, dass jeder von Ihnen eine „Maulbeerbaum-Geschichte“ im eigenen Leben entdeckt:
Momente, in denen der Glaube geholfen hat, etwas Schweres zu bestehen.
Augenblicke, in denen es wieder hell wurde in der Dunkelheit.
Vielleicht war es ein Gebet in einer Nacht voller Sorgen.
Vielleicht ein Mensch, der plötzlich zur Hilfe kam.
Vielleicht eine Kraft, von der Sie nicht wussten, dass Sie sie haben.

Maulbeerbaum-Geschichten, die von unserem Glauben und seinem Potential erzählen – auch wenn er so klein ist wie ein Senfkorn.

Kehren wir noch einmal zurück zu Eli Wiesel.
Er hörte die Stimme: „Wo ist Gott?“ – und in sich selbst: „Dort hängt er, am Galgen.“
In unserer Kirche, vielleicht auch in unseren Wohnungen sehen wir immer wieder ein Kreuz und uns wird auch eine Antwort gezeigt:
„Wo ist Gott?“ – Dort, am Kreuz.

Dort hängt der, von dem der Apostel Paulus schreibt:
Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave, den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“
(Phil 2,6–8)

Dort hängt der, der mit uns Menschen alles geteilt hat – außer die Sünde.
Und auch da wird in mir wieder das „Warum?“ hörbar.
Ich weiß, dass meine Theologie viele Antworten kennt – aber sie erreichen oft nur den Kopf, selten das Herz.

Darum nehme ich meine Fragen mit – und sie werden im Laufe des Lebens eher mehr als weniger.
Doch ich bin gewiss, mein kleiner Glaube sagt es mir: Wenn ich am Ende meines Lebens vor Gott stehe, wird er mir Antworten geben.