Ein schwerer Stein

Ostern 2023 in Jerusalem

Darauf gingen sie hin, um das Grab zu sichern. Sie versiegelten den Eingang und ließen die Wache dort. (Mt 27,66)
Die Hohenpriester haben alles getan: ein schwerer Stein soll sie vor unliebsamen Überraschungen sichern. Der Tod wird bewacht.

Wir alle sind Meister darin, mit schweren Steinen die Zustände abzusichern –
mit Vorurteilen,
mit Ausgrenzung,
mit Gewalt,
mit Schweigen,
mit Übersehen und Übergehen.
Dann bleibt alles so, wie es ist. Zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich und sogar zwischen Gott und Menschen liegen dicken Steine.

In der Morgendämmerung machen sich die Frauen auf zum Grab. „Beim Aufleuchten des Ersten Tages“ – heißt es wörtlich im griechischen Text.
Eine seltsame Zeitangabe – nicht mehr Nacht und noch nicht Tag. Mehr ein „Dazwischen“.
Mehr als eine Zeitangabe – fast schon eine Beschreibung einer Seelenlage: Trauernde Menschen leben oft lange „dazwischen“. Menschen, die sich getrennt haben oder getrennt wurden, kennen das auch.
Menschen, die auf Verzeihung warten, wissen, wie lang dieses „Dazwischen“ sein kann.
Menschen, die enttäuscht wurden und das Vertrauen noch nicht wieder gefunden haben.
Menschen mit einer tödlichen Diagnose, Menschen zwischen den Fronten kennen das „Dazwischen“.
Nicht mehr Nacht und noch nicht Tag.

Es ist auch eine Beschreibung für die Verfassung der Frauen. Ihr Weg zum Grab ist kein Morgenspaziergang –
Vieles ist ihnen in den letzten Tagen zerbrochen, vieles hat sich angestaut. Trauer, Verzweiflung, Enttäuschung Wut. Das eigene Leben ist nicht mehr das, was es vorher war. Die Hoffnung, Ideen und Perspektiven, die mit dem Leben verbunden waren, scheinen gescheitert, dem Leben scheint der Boden unter den Füssen entzogen zu sein. Neues ist nicht in Sicht.
Und doch: es ist für sie die Stunde des Aufleuchten des Ersten Tages – nicht mehr Nacht und noch nicht Tag.

Wir dürfen mit ihnen gehen – wir in deren Herzen es oft ähnlich aussieht oder ausgesehen hat.
Wir kommen zum Grab. Da liegt der Stein, den wir kennen und der alles so hoffnungslos macht. Im Markus-Evangelium spekulieren die Frauen noch, wer ihnen wohl den schweren Stein vom Grab wegwälzt. Matthäus benutzt ein dramatisches Bild, um zu verkünden, was geschehen ist: ein gewaltiges Erdbeben erschüttert alles und ein Engel Gottes wälzt den Stein beiseite. Matthäus will wohl, das wir uns mit allen Sinnen vorstellen, was geschieht.

Ein Erdbeben, ein Durcheinander, ein Tohuwabohu – wie jenes am Anfang der Schöpfung – geht auch hier dem Leben voraus. Ein Erdbeben – die Mauern unserer Weltgebäude stürzen ein. Alles, was so sicher und stabil war, gerät plötzlich ins Wanken.
Aber der Stein liegt noch an seiner Stelle – nicht Naturgewalten können ihn beseitigen. Gott selbst legt Hand an durch seinen Engel und räumt den Stein beiseite. Der Blick ist frei in das leere Grab, das nicht Beweis der Auferstehung ist, sondern nur ein Zeichen.

Was da geschehen ist, entzieht sich sowohl der Erfahrungswelt der Frauen, als auch unserer Erfahrung.
Hier erfährt die Geschichte einen Bruch oder vielmehr eine neue Dimension. Das was bisher war, wird nicht einfach fortgesetzt. Es beginnt etwas ganz Neues.
Das können wir mit Worten sagen, aber das Verstehen fällt uns schwer; denn was das gesehen ist, das erwarten wir erst noch. Was geschehen ist, gehört für uns eben nicht Erfahrung, sondern ist nur Gegenstand der Hoffnung.

Die neue Welt mag im Werden sein, in den Tod bricht schon Leben ein, heißt es. Aber wir erleben vor allem: ins Leben bricht immer wieder der Tod ein. Das ist eher unsere Erfahrung!

Deshalb sind wir angewiesen darauf, dass wir in dem, was uns geschieht, erahnen, was da geschehen ist.

  • Immer dann, wenn unser Leben erschüttert wird und sich anschließend der Himmel nicht verdunkelt, sondern die Morgenröte sichtbar wird,
  • immer dann, wenn statt dem Verwesungsgeruch von Ideologien, Programmen und Verhaltensmustern ein frischer Wind durch unsere kleine Welt weht,
  • immer dann, wenn Erstarrtes sich bewegt,
  • immer dann Trauer sich wandelt und neuem Lebensmut weicht,
  • immer dann, wenn wir Vertrauen, Versöhnung, Liebe erleben,
    sind wir dem, was da am Ostermorgen geschehen ist, auf der Spur.

Das mag uns Hoffnung machen auch an diesem Ostern 2023, wo die Nachrichten aus diesem Land uns das Gegenteil vermitteln. Das Ostern damals war kein Ereignis, das es in die Nachrichten geschafft hätte und doch hat es die Welt verändert. Deshalb gilt es, die Augenblicke des Ostermorgen zu entdecken.

Diese Erfahrung macht den Frauen Beine. Den Auftrag des Engels im Ohr, eilen sie zu den Jüngern, auch: weil man eine solche Erfahrung nicht für sich behalten kann.

Bevor wir mit ihnen gehen, werfen wir noch einen Blick zurück: Da liegt der Stein, weggewälzt. Gott lässt es nicht zu, dass wir dem Leben mit einem schweren Stein den Weg versperren. Lassen wir ihn da liegen, wo er ist.

Die Taufe – der Rettungsgriff Christi

Was aber bedeutet die Taufe?  Die Osternacht gibt uns eine dreifache Antwort:

  1. Hinabgestiegen in das Reich des Todes

Quelle: Wikipedia

In der Ostkirche wird auf vielen Ikonen die Auferstehung dargestellt, wie Jesus hinabsteigt in die Unterwelt und Adam und Eva mit einem typischen Rettungsgriff wie ihn auch heute noch Retter in unterschiedlichen Situationen praktizieren, herausreißt aus ihren Gräbern. Dahinter steckt das alte Weltbild, das die Welt in Etagen einteilt, Himmel, Erde, Unterwelt.

„Hinabgestiegen in das Reich des Todes“ – heißt es im Glaubensbekenntnis. Jesus hat sich weder das Leben noch das Sterben einfach gemacht. Sein Abstieg ging tief, mitten in das Reich des Todes hinein. Bis in die tiefste Tiefe ist er nach unten hinabgestiegen. Bis an den „toten Punkt“. Vielleicht kennen Sie das auch aus Ihrer Biografie. Den „toten Punkt“, wo alles zusammenbricht. Wo es weder ein zurück noch ein nach vorne gibt.

Als Toter ist Jesus zu den Toten hinabgestiegen. In ihm ist Gott zu den Toten gekommen und der hat ihn dort nicht gelassen. Er hat den Tod besiegt. Auf den Darstellungen der Ostkirche sind Adam und Eva zu sehen. Sie stehen stellvertretend für die ganze Menschheit. Mit einem Rettungsgriff zieht der Auferstandene sie aus der Macht des Todes. Genau das geschieht in der Taufe. Jesu Rettungsgriff fasst uns an den Handgelenken und zieht uns hinein in seine Auferstehung.

  1. Geht!

Haben Sie noch das Evangelium von eben im Ohr: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. […] Nun aber geht! Er geht euch voraus nach Galiläa! (Mk 16,7) Nun aber geht – jede entscheidende Begegnung in der Bibel ist verbunden mit dem Auftrag „Geht!“ Papst Franziskus spricht immer wieder von den „Sofa-Christen“, die die Welt vom Sofa aus betrachten oder sie unter ihrem Balkon vorbeiziehen lassen.

Die Sofa-Christen überhören geflissentlich das Wort „Geht“. In Ihrem Taufschein steht zwar, dass sie getauft sind. Aber sie brechen nicht mehr auf, sie gestalten nicht mehr ihre Welt aus der Botschaft des Evangeliums. Wenn in unserer Gesellschaft der „Untergang des christlichen Abendlands“ beklagt wird, dann liegt das nicht an REWE, der den „Traditionshasen“ verkauft, sondern an den „Sofa-Christen“ unserer Tage.

Erliegen Sie nicht dieser Versuchung. Lassen Sie sich stattdessen nach Galiläa schicken, d.h. dorthin, wo Sie Augen- und Ohrenzeuge der Botschaft Jesu werden können. Dafür brauchen Sie nicht ins Heilige Land zu reisen. Es genügt, wenn Sie in der Bibel lesen.

  1. Es liegt an uns!

Noch einmal möchte ich an das Evangelium von eben erinnern. An den letzten Satz: „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich.“ (Mk 16,8) Das ist der ursprüngliche Schluss des Markus-Evangeliums. Ende. Aus. Wo bleibt die Botschaft? Sie sagten niemandem etwas davon.
Wo sind all die Geschichten von den Jüngern, von Maria von Magdala, der Apostolin der Apostel. Von Johannes, Petrus, den Emmaus-Jüngern und Thomas? – Markus weiß davon nichts! Dieser ursprüngliche Schluss des Markus-Evangeliums provoziert. Ein paar Jahrhunderte nach der Urfassung des Markus-Evangeliums taucht plötzlich noch ein zweiter Schluss auf, der die Provokation der ursprünglichen Fassung auflösen will.
Markus hat eine Absicht mit diesem Schluss. Er will seine Hörerinnen und Hörer herausfordern. Wenn die Frauen am Ostermorgen schweigen, dann müssen wir reden! Die Botschaft des jungen Mannes im weißen Gewand muss weitergesagt werden: „Er ist auferstanden“. Als Getaufte ist dies unsere erste Pflicht: Zeuge, Zeugin der Auferstehung zu sein – damit die Botschaft nicht in Vergessenheit gerät.